Der Fall Nathan Carman

Wer regelmäßig Netflix schaut, dürfte über kurz oder lang zu der Ansicht kommen, dass so ziemlich jeder Mensch zu Verbrechen in der Lage ist. Zumindest zeichnen die unzähligen True-Crime-Produktionen ein eher ernüchterndes Bild. Ob in Geiselnahme live: Der Fall Eloá Pimentel ein 22-Jähriger seine sieben Jahre jüngere Ex-Freundin als Geisel nimmt, Aileen: Queen of the Serial Killers von einer berüchtigten Serienmörderin erzählt oder wir in Death by Lightning mehr über den bizarren Mord an dem US-Präsidenten James A. Garfield erfahren, der Streamingdienst haut zurzeit einen Titel nach dem anderen heraus. Wer das alles schon durch hat und nach mehr Verbrechen dürstet, kann einen Blick auf Der Fall Nathan Carman riskieren.

Ein mysteriöser Bootunfall

Dabei ist hier nicht einmal sicher, ob es überhaupt ein Verbrechen gegeben hat. Erzählt wird die Geschichte eines gemeinsamen Angelausflugs im September 2016 von einer Frau und ihrem Sohn, der fatal endete, als das Boot sank. Während der Sohn, der damals 22-jährige Nathan Carman, in einem im Meer treibenden Schlauchboot gefunden wurde, fehlte von seiner Mutter Linda jede Spur. Er habe sie nach dem Unfall aus den Augen verloren, so die Aussage des jungen autistischen Mannes. Ein schreckliches Unglück also? Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Der Fall Nathan Carman legt sich dabei nicht fest, was den damaligen Ermittlungen entsprach. Tatsächlich wuchsen schnell die Zweifel an der Version, die der junge Mann erzählte. Da waren einfach zu viele Ungereimtheiten.

Tatsächlich ist das hier eine dieser Dokumentationen, bei denen man ständig seine Meinung wechselt, da es für beide Theorien Argumente gibt. Erschwerend kommt hinzu, dass auch der Großvater von Nathan bzw. Vater von Linda einige Jahre zuvor gestorben war. Klar war in dem Fall, dass es sich um einen Mord handelte, jemand hatte ihn daheim erschossen. Klar war auch, dass offensichtlich jemand aus dem Haus daran beteiligt war, da Einbruchsspuren fehlten. Das macht es zumindest plausibler, dass der zweite Todesfall eben auch ein Mord war und Nathan der Täter sein könnte. Der Fall Nathan Carman handelt primär zwar von dem Bootunglück und dem Verschwinden der Mutter. Die eine Geschichte beeinflusst aber natürlich die Wahrnehmung der anderen.

Ein Rätsel ohne Lösung

Für ein Publikum, das gern spekuliert, ist das hier auf jeden Fall einen Blick wert. Die Geschichte ist mit so vielen dubiosen Punkten verbunden, dass man einiges zu tun bekommt. Wer jedoch gern klare Antworten möchte, der ist bei Der Fall Nathan Carman falsch. Das Verschwinden wurde nie aufgeklärt. Und vermutlich wird es auch nie aufgeklärt werden, da einfach die eindeutigen Beweise fehlen. Das könnte manche Zuschauer und Zuschauerinnen frustrieren, denen das so zu wenig ist. Es ist auch nicht so, als hätte der Dokumentarfilm neue Erkenntnisse oder anderweitig etwas anzubieten, was den Fall in einem anderen Licht erscheinen lässt. Diese Ambitionen hatte man gar nicht. Inszenatorisch hat Regisseur Yon Motskin (Encounters) sowieso nichts Eigenes versucht, es gibt den üblichen Mix aus Archivaufnahmen und Interviews.

Das heißt aber nicht, dass Der Fall Nathan Carman deswegen überflüssig ist. Wer noch gar nichts zu der Geschichte weiß, bekommt hier alle notwendigen Informationen, um sich selbst ein Bild zu machen – zumindest im Rahmen des Möglichen. Und es ist ja auch eine an und für sich interessante Geschichte. Fans von True-Crime-Produktionen machen hiermit daher nichts verkehrt, sofern sie eben nicht auf eine finale Auflösung bestehen. Der Film ist zudem angenehm kurz gehalten, weshalb das nicht zu einem vergleichbaren Geduldspiel wird wie so manch anderer Netflix-Beitrag. Über weite Strecken ist das auch angenehm sachlich gehalten, was in einem von Voyeurismus und ungenierter Manipulation geprägten Segment auch keine Selbstverständlichkeit ist.