The Other Side of the Wind Netflix Orson Welles
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The Other Side of the Wind

The Other Side of the Wind Netflix Orson Welles
„The Other Side of the Wind“ // Deutschland-Start: 2. November 2018 (Netflix)

Es gab eine Zeit, da war Jake Hannaford (John Huston) einmal ein großer Star. Inzwischen lebt der in die Jahre gekommene Regisseur aber vor allem von seinem früheren Ruhm, sein Versuch mit einem neuen Film an alte Erfolge anzuschließen, will irgendwie nicht so wirklich funktionieren. Zumal auch sein Hauptdarsteller John Dale (Robert Random) abgehauen ist, mitten während des Drehs. Aber das bedeutet nicht, dass Hannaford schon aufgegeben hätte. Stattdessen veranstaltet der Filmemacher zu seinem 70. Geburtstag ein rauschendes Fest, zu dem er die gesamte Prominenz Hollywoods einlädt. Eine Vorführung der unvollendeten Fassung seines Werks soll zudem die Finanzierung sichern, um doch noch den Film abschließen zu können. Aber es kommt anders.

Dass sich Netflix ein ums andere Mal Filme schnappt, die eigentlich fürs Kino gedacht waren, das ist oft von negativen Gefühlen begleitet. Mal werden so sehenswerte Sachen wie Auslöschung geklaut und der großen Leinwand vorenthalten. Bei anderen Filmen wie Mute besteht der Ärger eher da drin, dass sie überhaupt fertiggestellt wurden, Netflix hier nur Reste verwertet, die aus gutem Grund keiner haben wollte. So oder so: Wirklich rechtmachen kann es einem der Streaminggigant nicht mit dieser Strategie. Bisher.

Das Ende (?) eines Mythos
Eine Ausnahme gibt es jetzt zumindest, bei der selbst die größten Kritiker zähneknirschend zugeben müssen, dass Netflix eine Bereicherung für die Filmlandschaft ist. Denn das von ihnen gerettete The Other Side of the Wind ist nicht einfach nur ein Film. Es ist ein Mythos. Jahrelang arbeitete der legendäre Regisseur Orson Welles (Citizen Kane) daran, von 1970 bis 1976, konnte ihn aber vor seinem Tod 1985 nicht fertigstellen. Denn es kamen finanzielle und rechtliche Schwierigkeiten dazwischen, einer der Hauptdarsteller verließ noch während des Drehs den Film und musste ersetzt werden. Und als wären das nicht schon genügend Parallelen zwischen Welles Werk und dem darin gezeigten Film im Film: Beide tragen auch noch denselben Titel.

Es ist dann auch nahezu unmöglich, beides voneinander zu trennen: den Film und den Film im Film. The Other Side of the Wind ist nicht einfach die Geschichte eines Regisseurs, der vergangenen Erfolgen hinterherläuft. Dafür ist die Geschichte auch zu dünn, zu wenig greifbar. Vielmehr ist das hier selbst ein filmisches Experiment, voller Selbstironie und Verweise auf die Filmlandschaft der 1970er. Eine Parodie auf das Filmemachen und die Menschen, die in dem Geschäft herumstolzieren, selbstverliebt, ausufernd und immer einen Spruch auf den Lippen, der sie als Freigeister auszeichnen soll, selbst wenn sie eigentlich nichts zu sagen haben.

Der Plan des Zufalls
Das hat keinen roten Faden, soll es auch nicht haben. Szenen von der Party werden ohne Zusammenhang aneinandergereiht, unterbrochen von Szenen aus dem Film im Film, dazwischen gibt es Aufnahmen von der privaten Vorführung des Films. Erläuterungen oder Kontexte sind Mangelware, nur selten werden Figuren eingeführt. Man mag sich gar nicht vorstellen, welche Arbeit es gewesen sein muss, die angeblich über 1000 Filmrollen zu sichten und daraus einen Zusammenhang schneiden zu müssen. Nicht dass es diesen Zusammenhang am Ende hier geben würde. The Other Side of the Wind wirkt spontan, so als wäre tatsächlich jemand auf einer Party herumgelaufen und hätte alles mitgefilmt, ohne Filter, ohne Absicht, ohne Plan. Mal in Schwarzweiß, dann wieder in Farbe.

Für ein größeres Publikum ist das im Stil einer Mockumentary gedrehte Werk, also einer vorgetäuschten Dokumentation, natürlich nichts. The Other Side of the Wind, das zeitgleich mit der begleitenden Doku Sie werden mich lieben, wenn ich tot bin in Venedig Premiere feierte, ist ein reines Prestigeprojekt. Etwas, mit dem Netflix die oft naserümpfenden Kritiker für sich gewinnen will. Die werden hier dann auch ihre helle Freude haben, wenn sie Querverweisen nachgehen oder kunstvoll-sinnentleerte Sexszenen aus dem Film im Film bewundern, mit denen Hannaford ein junges Publikum ansprechen wollte, bevor er starb. Dabei ist die hypnotische Hollywood-Satire gleichermaßen ein Zeitdokument über einen Generationenwechsel in den 1970ern wie auch ein zeitloses Werk über eine Branche, die sich selbst feiert und die Welt da draußen des Öfteren aus den Augen verliert. Und wenn Susan Strasberg als belächelte wie verachtete Filmkritikerin mit dem alten Regisseur streitet, dann nimmt das zusammen mit einer späten Szene einiges vorweg, was die #MeToo-Bewegung ans Tageslicht gespült hat, mehr als 40 Jahre später.



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Was lange währt, wird endlich … eigen. „The Other Side of the Wind“ erzählt die Geschichte eines Regisseurs, der alten Erfolgen hinterherläuft. Einen roten Faden wird man in der dokumentarisch verpackten Satire auf Hollywood nicht finden, dafür unzählige Querverweise, Grenzüberschreitungen und Spielereien, die den Film gleichzeitig unübersichtlich und hypnotisch machen. Ein zeitloses Zeitdokument der 1970er über eine Branche im Wandel, die sich irgendwie aber doch nicht ändert.
7
von 10