Enter the Anime Netflix
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Enter the Anime

Enter the Anime Netflix
„Enter the Anime“ // Deutschland-Start: 5. August 2019 (Netflix)

Die erste Begegnung mit einem Anime kann zugegeben etwas irritierend sein. Das galt besonders in den 1980ern und 1990ern, als der Westen erstmal der japanischen Animationsszene bewusst wurde. Tentakelmonster, Schulmädchen mit riesigen Augen und knappen Röcken, eine von Technik definierte Gesellschaft: Die Zeichentrickfilme aus Fernost hatten nur wenig mit dem zu tun, was wir sonst so aus dem Kino oder dem Fernsehen kannten. Inzwischen sind Animes hierzulande zwar längst etabliert, es hat sich zumindest teilweise  auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Bereich deutlich mehr hergibt als die obigen Elemente. Aber noch immer erscheinen die asiatischen Produktionen manchmal wie eine fremde, bizarre Welt.

Einen Dokumentarfilm darüber zu drehen, was Animes ausmacht, welchen Stellenwert sie in Japan haben, wer die Leute dahinter so sind, das klingt deshalb erstmal nicht wie eine schlechte Idee. Allerdings tut die Netflix-Doku Enter the Anime nur so, als wäre das die Idee. Die Absicht dahinter ist jedoch eine ganz andere: Anstatt Zuschauer und Zuschauerinnen tatsächlich über diese spezielle Unterhaltungsbranche zu informieren, geht es hier in erster Linie darum, die eigenen Produktionen zu bewerben.

Sind wir falsch abgebogen?
Schon der Einstieg wird das bereits kundige Publikum irritieren. Weshalb reden die über Castlevania? Sicher, die Vorlage ist ein japanisches Kultspiel, auch die Designs orientieren sich an Fernost. Produziert wurde die Serie jedoch ausschließlich im Westen. Und auch wenn die Bezeichnung Anime sehr umstritten ist, es sehr unterschiedliche Auffassung gibt, was dieses Wort genau aussagt, ein Punkt ist meistens doch Voraussetzung: Ein Anime kommt aus Japan. Mit einem Gegenbeispiel anzufangen und nicht einmal auf die Kontroverse hinzuweisen, das ist mindestens oberflächlich, wenn nicht gar arrogant.

Ebenfalls komplett ignoriert wird in Enter the Anime die Frage nach der Animationstechnik. Mit dem Begriff Anime wurden zumindest früher im Westen Zeichentrickproduktionen bezeichnet. Während der Westen diese Form der Animation zu Weiten Teilen zugunsten von Computervarianten abgeschafft hat, lebt diese ältere Technik in Japan noch fort, auch wenn sie dort inzwischen natürlich mit CGI-Elementen fusioniert wird. Aber sind reine CGI-Serien wie Ultraman noch Anime? Und wie sieht es mit der Stop-Motion-Serie Rilakkuma und Kaoru aus? Immerhin: Ein bisschen wird wenigstens erklärt, wie sich diese Techniken unterscheiden, wenn schon nichts über die Anime-Zuordnung gesagt wird.

Werbung statt Infos
Allgemein wird man bei Enter the Anime am Ende kein Stück schlauer sein. Das Phänomen Anime in nur eine Stunde packen zu wollen, ist natürlich von vornherein schwierig und kann einer über 100 Jahre alten Kunstform nicht gerecht werden. Man hätte es aber wenigstens versuchen können. Doch die ganzen großen Meilensteine der Animationsgeschichte werden komplett unterschlagen. Studio Ghibli? Gibt es hier nicht. Auch kein Akira. Ghost in the Shell wird nur am Rande mal im Zusammenhang mit einer Serie erwähnt. Regiegrößen wie Satoshi Kon oder Mamoru Oshii finden keine Beachtung. Lediglich Neon Genesis Evangelion darf kurz mal auftauchen, was aber in erster Linie damit zu tun hat, dass sich der Streamingdienst die Rechte besorgt hat.

Selbst wenn sich dann doch mal jemand Bedeutenderes findet, etwa die Regisseure Shinji Aramaki und Kenji Kamiyama, geht es ausschließlich um deren Netflix-Zusammenarbeit. Auch dem CEO von Toei Animation, dem Urgestein der japanischen Animationskunst schlechthin, entlockt Enter the Anime so gar nichts Interessantes. Stattdessen werden Klischees ausgepackt wie Karaoke und Cosplay, dazu Allgemeinplätze als Erkenntnis verkauft. Dann und wann ist zwar mal etwas dabei, das kurz die Aufmerksamkeit verdient. Aber das ist eher die Ausnahme, der Dokumentarfilm ist letztendlich nicht mehr als ein schick gemachter Werbeclip, der innerhalb einer Stunde möglichst viele Netflix-Serien vorstellt. Sollten Geheimtipps wie besagtes Rilakkuma und Kaoru und Aggretsuko dadurch mehr Aufmerksamkeit erhalten, wäre das sicher nicht verkehrt. Als Behandlung des Themas Anime ist das hier jedoch gar nicht zu gebrauchen, weder für Einsteiger noch für Profis.



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„Enter the Anime“ will sich dem Phänomen Anime annähern, scheitert jedoch vollkommen an dieser Aufgabe. Man erfährt nichts über die Geschichte oder große Namen, strittige Fragen, was ein Anime überhaupt ist, werden komplett ignoriert. Stattdessen ist diese sogenannte Doku eine dreiste, nur vereinzelt informative Werbesendung für Netflix-Animes.