Der Fall des Gabriel Fernandez The Trials of Netflix
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Der Fall Gabriel Fernandez

Kritik

Der Fall des Gabriel Fernandez The Trials of Netflix
„Der Fall des Gabriel Fernandez“ // Deutschland-Start: 26. Februar 2020 (Netflix)

Zuschauer und Zuschauerinnen bei Netflix sind grausige Verbrechen eigentlich gewohnt. Nicht allein, dass der Streamingdienst mit Vorliebe Krimis, Thriller oder Horrortitel ins Sortiment aufnimmt. Er hat zudem ein treues Publikum um sich geschart, das scharf ist auf die vielen realen Verbrechen, die da draußen geschehen. Die sogenannten True Crime Dokus haben Hochkonjunktur, in den unterschiedlichsten Fassungen. Allein in der letzten Zeit buhlte man mit Wer hat Malcolm X umgebracht?, Der Apotheker und Der Mörder in Aaron Hernandez um die Aufmerksamkeit und Zeit der Menschen daheim auf den Sofas, die sich von diesen Rekonstruktionen ein bisschen Nervenkitzel erhoffen.

Bei Der Fall Gabriel Fernandez ist das anders. Hier geht es nicht darum herauszufinden, wer der Täter ist. Der steht von Anfang fest, ebenso das Opfer: Der 8-jährige Gabriel Fernandez wurde mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert, atmete auch schon nicht mehr. Verursacht wurden diese Verletzungen von der Mutter und ihrem Freund. Anfangs bestreiten die das noch, behaupten, das wäre alles ganz anders gewesen. Aber diese Trotzphase ist bald vorbei, die Dokuserie handelt von der Aufarbeitung eines Verbrechens, nicht von einer Tätersuche.

Unerträgliche Details einer Misshandlung
Und eben diese Aufarbeitung fordert einem richtig viel ab. Zu Beginn verweist Der Fall Gabriel Fernandez darauf, dass empfindsame Menschen vor den Bildschirmen sich auf verstörende Anblicke einstellen müssen. Und die Serie verspricht dabei nicht zu viel: In einer geradezu unerträglichen Detailfreudigkeit schildert Regisseur Brian Knappenberger, wie der Junge systematisch über Monate weg misshandelt wurde. Die üblichen Schläge sind dabei nur der Anfang. Gabriel wurde zudem in Schränke gesperrt, musste Katzenstreu essen, wurde mit brennenden Zigaretten gefoltert. Wo Missbrauch oft nur Ausdruck einer mangelnden Beherrschung seitens der Eltern ist, da ist das hier geplante Grausamkeit.

Der Fall Gabriel Fernandez schildert diese Vorfälle, teils in Worten, teils in Bildern, verbindet dies aber mit einer Reihe weiterer Fragen und Themen. Beispielsweise wird der juristischen Frage größerer Raum eingeräumt, ob es sich hier nur um Missbrauch, um Totschlag oder Mord handelt, ob auch Folter Teil der Anklage wird. Denn damit einher geht eine deutlich härtere Bestrafung, im Höchstfall sogar ein Todesurteil. Das bedeutete viele Diskussionen bei der Jury, die eben nicht nur Gerechtigkeit für den toten Jungen wiederherstellen sollte, sondern sich auch mit den Konsequenzen auseinandersetzen musste. Können sie damit leben, ein anderes Leben auf dem Gewissen zu haben?

Wo wart ihr, als er Hilfe brauchte?
Vor allem aber zeigt die Doku ein System, das an vielen Stellen völlig versagt hat, teils durch Inkompetenz, teils durch Korruption. Wenn der Staatsanwalt Unterlagen von der Polizei einklagen muss, die wiederum einer FBI-Agentin drohen, Jugendämter jegliche Auskunft verweigern, dann nimmt der vermeintliche Einzelfall ungeahnte Dimensionen an. Hinweise wurden missachtet, Zeugen kein Glauben geschenkt, selbst Gabriel wurde nie wirklich gehört. Und zum Schluss wird vertuscht, so gut es nur geht. Als wäre das Schicksal des Jungen nicht auch so schon schockierend genug, lässt Der Fall Gabriel Fernandez keinen Zweifel daran, dass es leicht zu verhindern gewesen wäre, hätten die Verantwortlichen einfach ihren Job gemacht.

Nun ist man hinterher immer schlauer. Die Doku macht es einfach, vielleicht zu einfach, im Anschluss mit dem Finger auf die anderen zu zeigen. Die grundsätzliche Debatte, wann das daheim erlittene Trauma größer ist als das Trauma einer Familientrennung, die wird zwar angestoßen, aber recht bald wieder begraben. Auch andere Fragen, etwa zu den Missbrauchsvorwürfen gegenüber dem Onkel oder inwieweit der Freund von Gabriels Mutter erst durch sie dazu getrieben wurde, kommen zu kurz. Sechs Folgen zwischen 50 und 60 Minuten ist am Ende gleichzeitig zu viel und zu wenig, um die Geschichte zu erzählen. Es lässt sich auch nicht wirklich etwas aus Der Fall Gabriel Fernandez ableiten außer einer diffusen Wut und Schock. Wem es jedoch mehr um den Effekt einer solchen Geschichte geht, weniger um Erkenntnisse, der darf sich hiervon richtig durchschütteln lassen.

Credits

OT: „The Trials of Gabriel Fernandez“
Land: USA
Jahr: 2020
Regie: Brian Knappenberger
Musik: John Dragonetti
Kamera: Nicola Marsh, Jay Visit

Bilder

Trailer

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„Der Fall Gabriel Fernandez“ erzählt von einem 8-jährigen Jungen, der von seiner Mutter und dessen Freund systematisch misshandelt wurde, am Ende dieser Folter auch erlag. Die Dokuserie ist schockierend, macht wütend, bringt darüber hinaus aber nur wenige Erkenntnisse mit sich außer einer grundsätzlichen Kritik an einem kaputten System.