Nur die halbe Geschichte The half of it Netflix
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Nur die halbe Geschichte

Kritik

Nur die halbe Geschichte The half of it Netflix
„Nur die halbe Geschichte“ // Deutschland-Start: 1. Mai 2020 (Netflix)

In der Schule ist Ellie Chu (Leah Lewis) ein Ass, keine kann wie sie mit Worten umgehen. Doch glücklich ist die Tochter asiatischer Einwanderer nicht in dem abgelegenen Kaff Squahamish. Freunde hat sie keine, seit dem Tod ihrer Mutter ist sie einsam und träumt davon, von dem Ort wegzukommen. Bis es so weit ist, bedeutet es aber, für andere Aufgaben zu machen und Aufsätze zu schreiben, damit irgendwie Geld reinkommt. Ihr neuester Klient ist Paul Munsky (Daniel Diemer), der bis über die Ohren in Mitschülerin Aster Flores (Alexxis Lemire) verliebt ist, aber einfach nicht die passenden Worte findet. Ellie soll ihm nun dabei helfen und schreibt für ihn daher immer wieder Nachrichten an sie. Das ist gleichzeitig ganz einfach und doch auch furchtbar kompliziert, ist sie doch selbst heimlich in Aster verliebt …

Und schon wieder eine Netflix-Produktion rund um Teenies und ihre wahnsinnig komplizierte Gefühlswelt. Auch wenn das Thema natürlich zum festen Bestandteil des Sortiments gehört, so stark wie derzeit wird es doch eher selten bedient. Letzte Woche ging das Schuldrama Love 101 an den Start, diese Woche folgten die Multikulti-Komödie Noch nie in meinem Leben … sowie die Buchadaption Drei Meter über dem Himmel. Natürlich hatten alle drei ihre Eigenheiten oder auch Stärken und Schwächen. Aber es war schon ein wenig geballt, wie der Streamingdienst hier um eine bestimmte Zielgruppe buhlt. Braucht es da wirklich noch mit Nur die halbe Geschichte noch einen weiteren Film in dem Segment, der bereits vierte Titel innerhalb einer Woche?

Eine moderne Variante eines bekannten Stoffes
Zumal das zugrundeliegende Szenario sicher nicht das originellste ist. Eine wenig beachtete, intelligente und einfühlsame Person schreibt im Namen einer anderen, weniger begabten einer dritter Nachrichten, um mithilfe der Macht der Worte deren Zuneigung zu gewinnen – da muss man nicht sonderlich lange nachdenken, um das offensichtliche Vorbild Cyrano de Bergerac darin wiederzuerkennen. Wobei Nur die halbe Geschichte durchaus eine moderne Variante darstellt. Wenn Ellie an der passenden Nachricht feilt, dann bedeutet das nicht nur gewählte Worte zu finden, sondern auch das richtige Emoji. Nimm die Brille, heißt es an einer Stelle, das wirkt intellektuell – ein kleiner feiner Seitenhieb auf den exzessiven und dabei oft unsinnigen Gebrauch von Bildchen, welche anstelle eines tatsächlichen Inhalts verwendet werden.

Vor allem aber ist Nur die halbe Geschichte ein Bekenntnis zu Diversität. Regisseurin und Drehbuchautorin Alice Wu, selbst taiwanesischer Abstammung und offen homosexuell, nutzte die Gelegenheit, um aus Cyrano de Bergerac jemanden zu machen, der mehr ihrer eigenen Erfahrungswelt entspricht: Aus dem Mann mit der riesigen Nase wurde eine junge Lesbe mit asiatischen Wurzeln, ein ziemlicher Albtraum für das rechte Amerika. Wider Erwarten thematisiert Wu diese Andersartigkeit aber nicht als wirkliches Problem. Ellie ist nicht das Opfer von Mobbing wegen ihrer Herkunft. Und wenn gegen Ende die obligatorische Enthüllung ihrer Homosexualität ansteht, dann ist auch das nach einer kurzen Irritation kein großes Drama in dem ländlichen Nirgendwo.

Junge Menschen mit echter Entwicklung
Besonders schön an der Tragikomödie ist dabei, dass Wu ihren Figuren mehr zugesteht, als es die Konstellation eigentlich erwarten ließe. So ist Ellie nicht einfach die reine Heldin, der im Vergleich zu Paul die Trophäe Aster zusteht. Vielmehr benutzen die beiden sich gegenseitig, um an dieselbe Traumfrau heranzukommen, müssen im Laufe des Films erkennen, dass sich beide falsch verhalten. Und auch Aster darf eine Entwicklung durchmachen, wenn sie der ihr zugestandenen Rolle der hübschen Deko-Cheerleaderin entkommt, sie mehr sein darf als das und nach einem eigenen Platz suchen kann.

Im Gegensatz zu vielen anderen Teenie-RomComs, die Netflix so zeigt, ist Liebe hier deshalb zwar das Ziel, aber nicht das Ende. Vielmehr ist Nur die halbe Geschichte deutlich stärker im Coming-of-Age-Bereich verankert, wenn die drei im Laufe des Films mehr über sich herausfinden, über ihre eigenen Gefühle. Die Erkenntnisse, die hier gesammelt werden, mögen dabei nicht so schrecklich neu oder anders sein. Dafür ist der Film ausgesprochen charmant, gerade die sich entwickelnde Freundschaft zwischen Ellie und Paul geht zu Herzen. Und auch der Humor kommt nicht zu kurz, da Leah Lewis ein deutliches Talent für Komik hat. Ohnehin ist das junge Ensemble eine schöne Überraschung, die darauf hoffen lässt, dass man die Newcomer in Zukunft noch häufiger in Filmen sehen darf und die Tragikomödie in dem überlaufenen Feld ihr Publikum findet.

Credits

OT: „The Half of It“
Land: USA
Jahr: 2020
Regie: Alice Wu
Drehbuch: Alice Wu
Musik: Anton Sanko
Kamera: Greta Zozula
Besetzung: Leah Lewis, Daniel Diemer, Alexxis Lemire, Collin Chou, Catherine Curtin

Trailer

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„Nur die halbe Geschichte“ ist eine ungewöhnliche Variation von Cyrano de Bergerac, wenn ein Mädchen asiatischer Herkunft für einen Jungen Liebesnachrichten verfasst, für deren Empfängerin sie selbst Gefühle hegt. Der grundsätzliche Ablauf der Tragikomödie mag wenig überraschend sein. Doch sie gefällt aufgrund des talentierten jungen Ensembles und einer Figurenzeichnung, die tatsächlich eine Entwicklung zugesteht.
7
von 10