In die Sonne schauen
© Fabian Gamper / Studio Zentral

In die Sonne schauen

In die Sonne schauen
„In die Sonne schauen“ // Deutschland-Start: 28. August 2025 (Kino)

Inhalt / Kritik

Ein Vierseithof in der Altmark: Vier Generationen von Frauen leben und lebten hier. Jede von ihnen ist vom Mädchen zur Erwachsenen herangereift. Was hat sie geprägt, was mussten sie durchmachen, woran hatten sie Freude? Und: Wie hängen diese Leben zusammen, was geht von den Ahnen auf die Nachfahren über, selbst wenn letztere gar nichts von früheren Traumata wissen? Regisseurin Mascha Schilinski stellt solche Fragen in ihrem Sensationserfolg in den Raum, mit dem sie in Cannes dieses Jahr den Preis der Jury gewann. Ihr sinnlich-meditatives Kreisen um Geheimnisse und Erinnerungen rückt vier Mädchen ins Zentrum eines glänzend besetzten Ensemblefilms. Alma (Hanna Heckt) wächst in den 1910er Jahren auf, Erika (Lea Drinda) 30 Jahre später, Angelika (Lena Urzendowsky) in der DDR der 1980er und Nelly (Zoë Baier) in unserer Gegenwart. Ein teils grausames, teils lebensfrohes, immer von Geheimnissen durchzogenes Mosaik, eingefangen in einer erfrischend wagemutigen, Neuland erkundenden Filmsprache.

Sein und Zeit

Erika soll die Schweine in den Stall treiben, aber ihre Fantasie zieht sie woanders hin. Wir sehen sie auf Krücken laufen, ein Bein fest hochgebunden. Nein, nicht sie ist die Versehrte, sondern Fritz (Martin Rother), in dessen Kammer sich Erika schleicht. Sie hebt das Laken des Nackten hoch, betrachtet mit einer erotisch gefärbten Faszination den vernarbten Beinstumpf. Wenig später fängt sie sich eine krachende Ohrfeige ein – die Schweine laufen schließlich immer noch durch den Hof. Erikas Kopf dreht sich weg, aber sie weint oder schreit nicht, sondern schaut träumerisch versonnen in die Kamera. Die Zeit scheint einzufrieren. Wen blickt Erika an? Uns Zuschauer? Die Frauen aus den anderen Zeitebenen, die der Film nach und nach zu einer einzigen verwebt? Das wird nicht geklärt, ganz bewusst nicht. Hingegen werden wir im Laufe der filmischen Assoziationsketten und Sprünge zwischen den Epochen (vor und zurück) immerhin erfahren, wer Fritz ist und wie er sein Bein verloren hat. Auch andere Fragen klären sich, aber ebenso wie bei Fritz nicht schon in der nächsten oder übernächsten Szene. Sondern meist erst im letzten Filmdrittel, wenn die Fäden zusammenlaufen.

Aus dem Zusammensetzen des Puzzles speist sich der Spannungsbogen. Aber dem Film geht es nicht in erster Linie ums Enträtseln. Sondern um einen Bilderfluss, der zum Eintauchen einlädt. Um den Genuss sinnlicher, immer wieder überraschender Einstellungen in einem schmalen 4:3-Format, das die individuelle Sichtweise der Protagonistinnen betont. Mascha Schilinski und ihr Kameramann Fabian Gamper lassen sich einiges einfallen, um uns quasi durch die Augen der Charaktere sehen zu lassen. Eine Geschichte im eigentlichen Sinne erzählen sie dabei nicht. Vielmehr fordern sie uns auf, unsere Gefühle zu schärfen und weniger unseren Verstand, der deuten will, statt genau hinzuschauen. Das impliziert einen Kontrollverzicht, so wie auch den porträtierten Mädchen und Frauen manches entgleitet, was auf sie einwirkt, ohne dass sie es in den Griff bekommen können. Nicht Herr im eigenen Haus zu sein – diese Erfahrung erweitern Mascha Schilinski und ihre Co-Autorin Louise Peter über den psychoanalytischen Deutungshorizont hinaus. Nicht nur unbewusste Vorgänge im Sinne verdrängter, aber selbst erlebter Geschehnisse beeinflussen das Erleben und Tun der Filmfiguren. Sondern mehr noch die Traumata der Vorfahren – und sogar die von Fremden, die einmal im Viertseithof gelebt haben.

Spiel mit dem Zweideutigen

Wollte man In die Sonne schauen einzig und allein als Geschichte von Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen lesen, bekäme man genug Stoff. Zwangssterilisation, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung spielen eine wichtige Rolle. Sie ergeben sich aus der Recherche, die Mascha Schilinski und Louise Peter angingen, nachdem sie selbst Zeit auf dem Hof verbracht hatten. Sie stolperten zum Beispiel über Geschichten, in denen es hieß, dass Mägde ungefährlich für die Männer gemacht werden müssten, ohne dass dies weiter erklärt worden wäre. Dem sozialen Realismus gilt das Interesse der Filmemacherinnen jedoch nicht allein, selbst wenn der Film in solchen Momenten an Michael Hanekes Das weiße Band (2009) erinnert. Mindestens genauso wichtig sind ihnen Fragen, die darum kreisen, wer wir eigentlich sind, auf welch subjektive Weise wir die Welt wahrnehmen und wie unsere Erinnerung die Sicht auf uns selbst formt. In keiner Sekunde tut das Generationsdrama so, als hätte es darauf definitive Antworten. Stattdessen lässt es sich verunsichern und überraschen. Es spielt mit dem Zweideutigen und schwer Greifbaren.

In seinen Zwischentönen und Traumbildern, in der Lebenswut und Todessehnsucht seiner Protagonistinnen wagt sich In die Sonne schauen auch filmsprachlich auf unbekanntes Terrain vor. Für seine Art, dem persönlichen Erleben so nah wie möglich zu kommen, gibt es kaum Vorbilder. Schon in ihrem ersten langen Spielfilm Die Tochter (2017), den sie im dritten Studienjahr drehte, wagte sich Mascha Schilinski an die radikal subjektive Weltsicht einer Siebenjährigen (gespielt von Helena Zengel, noch vor ihrem Durchbruch mit Systemsprenger), die den Vater für sich allein haben will und dabei zur Konkurrentin der Mutter wird. Jetzt im neuen Film, ihrem eigentlichen Debüt, bildet Mascha Schilinski ein ganzes Jahrhundert quasi aus der Innensicht ab, in einem Geflecht aus Blickwinkeln, Gefühlen, Träumen, Sehnsüchten und Ängsten. Gerade wegen der emotionalen Tiefgründigkeit des Films fügen sich das Reale und das Innenleben zu einem universellen Gesamtbild, das lange nachwirkt.

Credits

OT: „In die Sonne schauen“
Land: Deutschland
Jahr: 2025
Regie: Mascha Schilinski
Drehbuch: Mascha Schilinski, Louise Peter
Musik: Michael Fiedler, Eike Hosenfeld
Kamera: Fabian Gamper
Besetzung: Lena Urzendowsky, Laeni Geiseler, Zoë Baier, Hanna Heckt, Lea Drinda, Luise Heyer, Greta Krämer, Filip Schnack, Helena Lüer, Anastasia Cherepakha, Susanne Wuest, Gode Benedix, Luzia Oppermann, Bärbel Schwarz, Liane Düsterhöft, Martin Rother, Florian Geißelmann, Konstantin Lindhorst, Claudia Geisler-Bading, Andreas Anke, Ninel Geiger, Lucas Prisor

Bilder

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In die Sonne schauen
fazit
„In die Sonne schauen“ verwebt die Schicksale von vier Mädchenfiguren mit denen von erwachsenen Frauen und einigen wenigen Männern. Regisseurin Mascha Schilinski erzählt ebenso sinnlich wie nachdenklich von einem ganzen Jahrhundert, dessen Traumata sich tief in die Körper und Seelen eingegraben haben. Bis heute.
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