Chiara
© 2021 Stayblack Productions - Haut et Court -Arte France Cinéma - Rai Cinema

Chiara

„Chiara“ // Deutschland-Start: 23. Juni 2022 (Kino) // 26. August 2022 (MUBI)

Inhalt / Kritik

In einer kleinen Gemeinde in Kalabrien gehören die Guerrasios zu den angesehensten Familien der Stadt. Auch die jüngste Tochter Chiara (Swamy Rotolo) ist populär, hat einen großen Freundeskreis und macht jedes Wochenende die wenigen Klubs im Umkreis ihrer Heimat unsicher. Innerhalb der Familie buhlt sie mit ihrer Schwester Giula (Grecia Rotolo) um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern, wobei in den letzten Wochen diese das Rennen für sich entschieden hat, steht doch die Feier zu ihrem 18. Geburtstag an sowie ihre anstehende Fahrprüfung. Der Abend der Feier wird dann auch zu einem regelrechten Dorffest, zu dem neben der Familie viele Bekannte aus umliegenden Ortschaften anreisen. Doch als Chiara und die anderen Familienmitglieder sich eigentlich schon auf den Weg ins Bett machen wollen, wird die 15-jährige Zeugin einer Explosion in ihrer Straße sowie dem anschließenden Chaos im Dorf. Ausgerechnet der Wagen ihres Vaters Claudio (Claudio Rotolo) wurde komplett zerstört, wobei dieser seltsam ruhig erscheint und am nächsten Morgen unauffindbar zu sein scheint. Während Chiara über den Vorfall der letzten Nacht mit ihrer Mutter reden will, blockt diese ab, wie auch ihre Schwester.

Schließlich kommt Chiara zu einem schrecklichen Verdacht, der mehr und mehr zu einer Gewissheit wird, denn Claudio scheint ein Handlanger der N’drangheta zu sein, der kalabrischen Mafia, der, wie der Anschlag zeigt, wohl in Ungnade gefallen ist und sich nun auf der Flucht befindet. Das Leben der Jugendlichen scheint sich immer mehr aufzulösen, wobei sie zum einen auf eine Mauer des Schweigens oder offene Anfeindungen stößt, als sie Klarheit haben will.

Eine Stadt und ihre Bewohner

Als Regisseur und Drehbuchautor Jonas Carpignano im Jahre 2010 in die kleine Gemeinde Gioia Tauro zog, wusste er noch nicht, wie er in Interviews sagt, dass dies nicht bloß sein Wohnort für die nächsten Jahre sein würde, sondern zudem Dreh- und Angelpunkt für seine nächsten Projekte. In Mediterranea sowie Pio erzählte er Geschichten, die einige problematischen Themen innerhalb Italiens anfassen, von dem Umgang mit Flüchtlingen bis hin zu den Verbindungen der Mafia im öffentlichen Leben. Den Abschluss dieser inoffiziellen Trilogie bildet Chiara (oder A Chiara), eine Mischung aus Familien- und Coming-of-Age-Drama, welches die Suche nach der eigenen Identität verwebt mit der Frage nach der eigenen Unschuld an den Verbrechen eines Menschen, der einem nahesteht.

Wie in Francis Ford Coppolas Der Pate steht auch am Anfang von Chiara ein festlicher Anfang, der weniger ein Familien- als mehr ein Dorffest zu sein scheint, wenn man alleine die Zahl der Gäste bedenkt. Fast eine ganze halbe Stunde lässt sich Carpignano Zeit, diese Festivität einzufangen, die Tischreden, die Tänze sowie die ersten Abstürze von Partygästen, die wohl ein Glas zu viel getrunken haben. Zugleich wird man eingeführt in die Verbundenheit dieser Familie und dieser Gemeinde, die für Chiara Heimat und Identität zugleich ist – so sehr, dass sie auch die Rivalität mit ihrer Schwester für einen Augenblick vergessen kann und mitmacht, als es darum geht, ihren schüchtern wirkenden Vater Claudio dazu zu bewegen, eine Rede auf seine Tochter zu halten. Als Zuschauer ahnt man bereits, schon lange vor dem Anschlag, dass dies wohl das letzte Mal sein wird, dass man die Familie in dieser Konstellation wiedersehen wird und sich zugleich diese Zugehörigkeit, dieses Glück und damit auch diese Identität in einem Zerfallsprozess befinden, wobei immer wieder die Frage im Raum steht, ob es die Protagonistin bewusst Dinge ausgeblendet hat oder tatsächlich durch einen tragischen Umstand von diesen erfährt. Carpignanos Drehbuch impliziert eine Ebene unter dieser Normalität, dieser Harmonie und dieser Zusammengehörigkeit, die immer offensichtlicher wird, für den Zuschauer wie auch die Hauptfigur.

Die gefährliche Suche nach dem Ich

Bereits lange bevor er mit den Dreharbeiten zu Chiara anfing, war für Carpigano klar, dass er Swamy Rotolo sowie deren Familie in den Hauptrollen besetzen würde. Für die Szenen in der Familie, beispielsweise bei der eben erwähnten Feier, führt dies zu einer gewissen Natürlichkeit, die dem semi-dokumentarischen Ansatz, den der Regisseur sowie Kameramann Tim Curtin verfolgen, durchaus dienlich sind. Auch hier scheint sich eine Parallele zu den Familiendramen Hollywoods aus den 1970er zu zeigen, wie auch der eigenen Filmgeschichte, wenn es um die Darstellung der N’drangheta und ihre Verbindungen zu den Elementen einer Gemeinschaft, einer Familie wie auch eines Dorfes, geht. Chiaras Suche nach Antworten wird auch zu einem Prozess der Entfremdung, von ihren Eltern, ihrer Schwester sowie dem Rest der Gemeinschaft, die auf einmal allesamt zu Mitwissern werden.

In der Hauptrolle ist die junge Swamy Rotolo eine wahre Entdeckung. Mit großer Energie und Hingabe spielt sie diese Mischung aus Wut, Enttäuschung und Trauer, die ihre Figur ausmacht sowie die Erkenntnis, dass sie eigentlich gar nichts wisse, wie es ihre Mutter einmal sagt. Als interessanten Ausgangspunkt ihres Spiels wie auch der Figurenentwicklung bleibt die Frage, ob nicht schon immer von diesen dunklen Seiten ihrer Familienbiografie wusste, ob sie wirklich noch weiter nachforschen soll und ob ein Ausbleiben oder gar ein Schweigen nicht die eigene Schuld noch vermehrt.

Credits

OT: „A Chiara“
Land: Italien, Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Jonas Carpignano
Drehbuch: Jonas Carpignano
Musik: Benh Zeitlin, Dan Romer
Kamera: Tim Curtin
Besetzung: Swamy Rotolo, Claudio Rotolo, Grecia Rotolo, Carmela Fumo, Giorgia Rotolo, Vincenzo Rotolo, Antonia Fumo

Bilder

Trailer

Kaufen / Streamen

Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.




(Anzeige)

Chiara
Fazit
„Chiara“ ist eine Mischung aus Coming-of-Age-Drama und Familiengeschichte. Jonas Carpignano erzählt von dem Finden der Identität als einem schmerzhaften und äußerst gefährlichen Prozess, der nicht nur durch den ästhetischen wie erzählerischen Ansatz getragen wird, sondern zudem durch das überzeugende Ensemble.
Leserwertung24 Bewertungen
6.1
9
von 10