Die deutsche Serie Cassandra (ab 6. Februar 2025 auf Netflix) erzählt die Geschichte einer Familie, die nach einem tragischen Vorfall noch einmal von vorne anfangen möchte und deshalb in ein abgelegenes Haus in einer ländlichen Gegend zieht. Dessen Vorbesitzer war offensichtlich ein richtiger Tüftler, das ganze Haus ist voller Elektronik. Vor allem der Roboter Cassandra ist immer zur Stelle, wenn einer der vier etwas braucht. Samira (Mina Tander), ihr Mann David (Michael Klammer) und die beiden Kinder Flynn (Joshua Kantara) und Juno (Mary Tölle) sind begeistert. Doch was zunächst wie ein technologischer Traum wirkt, entpuppt sich mit der Zeit als zunehmend fragwürdig. Immer wieder kommt es zu seltsamen Vorkommnissen. Je mehr Samira über das Haus und dessen Vorgeschichte erfährt, umso unheimlicher wird es. Wir haben Regisseur und Autor Benjamin Gutsche bei der Premiere der Serie im Rahmen der Fantasy Filmfest White Nights 2025 getroffen und mit ihm im Interview über die Gefahren der Technik und überholte Frauenbilder gesprochen.
Bekannt geworden bist du durch deine Serie All You Need. Das ist inhaltlich jetzt schon ein ziemlich großer Sprung zu Cassandra. Wie kam es dazu? Und was hat dich daran gereizt, diese Geschichte zu erzählen?
Die Idee zu dieser Geschichte hatte ich sogar schon vor All You Need. Die Nachfrage nach Near-Future-Serien war damals schon groß, also nach Science-Fiction, die nicht zu weit in der Zukunft liegt und die auch noch gut realisierbar ist. Und da hatte ich die Idee, eine Serie über ein Smart Home zu machen, über eine digitale Haushälterin, die es schafft die Kontrolle über eine Familie zu übernehmen. Als ich dann auf Netflix Black Mirror angeschaut habe, hatte sich das Thema für mich eigentlich wieder erledigt. Die Serie hat das schon so super gemacht und aus so vielen Perspektiven erzählt, dass ich mein Projekt ad acta legen wollte. Dann kam mir aber über Nacht die Idee, die Geschichte in die Vergangenheit zu verlegen und daraus das erste Smart Home in Deutschland zu machen. Unser neuer Ansatz war, dass Deutschland nicht nur das Land der Dichter und Denker gewesen ist, sondern auch das der großen Erfinder, wenn man an Buchdruck oder das Automobil denkt. Was wäre, wenn schon in den 70er Jahren ein moderner Frankenstein an einem Smart Home gearbeitet hätte? Dadurch haben wir uns mit der Zeit immer mehr von den Near-Future-Elementen entfernt. Stattdessen hatten wir eine Art Retro-Science-Fiction und vermischen das mit einem Psychothriller und märchenhaften Elementen. Und eben Horror.
Du erzählst in Cassandra prinzipiell zwei Geschichten. Die eine ist die der Familie, die in der Gegenwart spielt. Die andere betrifft Cassandra selbst, über die wir später sehr viel erfahren, wenn du über die Vergangenheit sprichst. Wie bist du auf diese Geschichte gekommen, die primär erst einmal nichts mit Smart Home zu tun hat?
Ich will hier nicht zu viel spoilern. Aber die Idee war, eben um uns von Black Mirror zu unterscheiden, dass Cassandra nicht einfach nur eine künstliche Intelligenz ist, sondern auf einem Menschen basiert, der mal gelebt hat. Ihre Geschichte spielt in den 1970ern, in der westdeutschen Bonner Republik. Das gesellschaftliche Bild war damals noch ein ganz anderes. Wir wollten schauen, was passiert, wenn eine Frau aus dieser Zeit, die stark von dem damaligen Weltbild geprägt ist, auf eine moderne Gesellschaft trifft. Das war das Spannungsfeld, das mich interessierte. Deswegen wollte ich stärker einsteigen in ihre Backstory. Cassandra sollte nicht einfach nur eine eindimensionale Antagonistin sein. Ich wollte verstehen: Wo kommt das bei ihr her? Was hat sie erlebt? Was hat sie wirklich angespornt damals? Am Ende geht es in beiden Zeitebenen darum, wie weit du gehen würdest, um deine Familie zu beschützen und bei ihr zu bleiben.
Dieses Leben der alten Cassandra entspricht natürlich nicht deiner eigenen Erfahrungswelt. Wie schwierig war es für dich, dich in sie hineinzuversetzen, gerade auch, weil es sich ja um eine letztendlich emotionale Geschichte handelt?
Gar nicht mal so schwer. Zum einen interessieren mich natürlich genau die Geschichten, die nicht mein Leben betreffen, weil ich nicht überall autobiografisch meine eigenen Erfahrungen einbringen will. Mich reizt es mehr, mich in Themenkomplexe einzuarbeiten, die nicht besonders viel mit meinem Leben zu tun haben. Klar habe ich mir ganz viele Filme und Serien aus der Zeit angeschaut, Dokumentationen, aber auch ganz viel Werbung, weil die sehr viel über die damalige Gesellschaft aussagt. Was da für ein Frauenbild projiziert wurde! Im Schreibprozess in eine Welt einzutauchen, in der ich noch nicht einmal geboren war, hatte schon einen großen Spaßfaktor. Es war einfach toll, von dieser Zeit zu erzählen und sie in ein fantastisches Genre zu packen. Wenn du dir Pans Labyrinth anschaust: Klar hättest du aus der Geschichte eines Mädchens im Spanischen Bürgerkrieg ein Drama machen können. Guillermo del Toro hat stattdessen aber einen Fantasyfilm draus gemacht. Mir ging es nicht allein darum, welches Thema ich erzähle, sondern vor allem wie ich das umsetze. Das ist immer das, was mich extrem interessiert beim Storytelling.
Das Motiv einer Technik, die verrückt spielt, ist eines, das im Science-Fiction-Genre eine lange Tradition hat. Und doch ist es auffallend, wie viele Filme es in den letzten Jahren gab um Roboter, künstliche Intelligenzen und Smart Homes, die verrückt spielen. Warum ist das gerade wieder so populär?
Ich glaube, dass wir in einer Phase sind, wo genau diese Art Technik an einer Art Scheidepunkt angekommen ist. Witzigerweise habe ich gerade erst vor kurzem gelesen, dass tatsächlich überlegt wird, ein Digital Afterlife anzubieten für Leute, die sterben. Sie können ihre Avatare vorab mit Informationen über sich füttern. Als Hinterbliebener könntest du den Verstorbenen dann anrufen, du könntest mit ihm chatten, du könntest Bewegtbildaufnahmen haben. Die Idee ist, eine künstliche Intelligenz von jemandem zu erschaffen, der verstorben ist, damit die Angehörigen ihren Trauerprozess einfacher abschließen können. Wobei ich mich da schon frage: Schließt man damit wirklich diesen Trauerprozess ab oder hängt man dann eher in einem ewigen Loop fest? Es sind genau diese moralischen Fragen, die uns so beschäftigen, weil sich durch die Technik so viel in unserem Leben ändert. Die Welt entwickelt sich rasant weiter. Da ist es nachvollziehbar, dass sich die Menschen damit beschäftigen und die Vor- und Nachteile von Künstlicher Intelligenz in der Gesellschaft diskutiert werden. Wahrscheinlich gibt es deswegen auch so viele Filme zu dem Thema. Wenn du M3GAN nimmst, da geht es auch um eine Puppe, die bei einem Trauerprozess helfen soll. Filme und Serien sind schließlich im besten Fall immer ein Spiegel der Gesellschaft.
Das Thema ist oft mit einem Angstgefühl verbunden. Die Angst, die Kontrolle zu verlieren. Hältst du diese Angst für gerechtfertigt oder ist sie rein irrational?
Wenn deine eigenen Daten hochgeladen werden und zum Beispiel auf deiner Cloud gespeichert sind, besteht natürlich auch eine gewisse Sorge, dass diese Informationen etwa durch einen Hack an die Öffentlichkeit kommen. Ich bin niemand, der Technik verteufelt und sagt, wir müssen jetzt aufhören, das wird alles zu viel. Aber Fakt ist auch, dass mit jeder neuen Erfindung, mit jedem technologischen Fortschritt verantwortlich umgegangen werden muss. Deswegen sollte man diese Sorgen tatsächlich diskutieren. Ich zum Beispiel stell mir auch die Frage, ob ich in 20 Jahren noch Drehbücher schreiben werde oder ob das bis dahin dann ChatGPT übernimmt. Das ist eine ganz persönliche Sorge von mir, weil mir dieser Job unglaublich viel Spaß macht. Von daher würde ich nicht sagen, dass es eine irrationale Angst ist. Ob das am Ende so kommt wie in den größten Dystopien, ob Roboter wie in I, Robot die Welt übernehmen, das weiß ich nicht. Aber ich kann schon nachvollziehen, wenn die Menschen moderne Technik wie im Bereich der KI skeptisch hinterfragen.
Gibt es denn schon in der Gegenwart Beispiele, wo du sagst: „Das ist mir zu viel Technik, das hätte ich so nicht gebraucht.“?
Jedes Mal, wenn ich im Urlaub bin und vor einem Cerankochfeld mit Touchscreen oder Touchpad stehe und die Kartoffeln überkochen. Bis man es mit dem Daumen schafft, dass genau dieser Herd, der gerade überkocht, wirklich anvisiert wird und reagiert, das dauert mir viel zu lange. Ich mag es auch nicht, zu Hause alle Lichtschalter mit meiner Stimme zu bedienen. Da mag ich es doch lieber analog, weil ich das Gefühl habe, ich bin da schneller. Vielleicht spreche ich aber auch zu undeutlich. Wenn die einfachsten Bereiche schon komplett digitalisiert sind, habe ich damit meine Probleme.
Eine Sache, die mir aufgefallen ist: Bei vielen dieser Filme und Serien sind diese Roboter, künstliche Intelligenzen und so weiter weiblich. Entweder sind es Frauen oder sie haben Frauenstimmen. Woran liegt das deiner Meinung nach?
Also ich kann nicht für die anderen Filme und Serien sprechen. Bei mir hängt es damit zusammen, dass ich über dieses gesellschaftliche Weltbild Anfang der 70er Jahre erzählen wollte, als von einer Frau noch immer erwartet wurde, dass sie zu Hause bleibt und sich um die Familie kümmern muss. Das hat sich zwar inzwischen geändert, aber zum Teil merkst du immer noch, dass dieses Denken in den Köpfen drin ist, dass Hausarbeit Frauenarbeit ist. Bis vor ein paar Jahren war es beispielsweise üblich, dass du bei Events nur Hostessen gesehen hast, bis die Leute mal auf die Idee kamen, dass eigentlich auch Männer mit Tabletts rumgehen können. Oder wenn du den Paygap nimmst bei Frauen und Männern – Frauen verdienen noch immer weniger. Es ist also nicht so, dass wir das Thema Ungleichheit komplett ausgeräumt haben. Deswegen fand ich es auch so spannend, diese beiden Zeitebenen gegenüber zu stellen und zu zeigen, dass manches 50 Jahre später noch immer aktuell ist. Wir sind noch nicht da, wo wir sein müssten. Und wenn du dir anschaust, wie das gesellschaftliche und politische Pendel gerade leider wieder rückwärts schwingt, ist es für uns umso wichtiger, dieses Thema anzusprechen.
Vielen Dank für das Gespräch!
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