Albrecht Schuch, Paula Beer und Stefan Haupt bei der Weltpremiere von "Stiller" beim Filmfest München 2025 (©Kurt Krieger / Filmfest München)

Stefan Haupt [Interview]

Basierend auf dem gleichnamigen Romanklassiker von Max Frisch erzählt Stiller von dem US-Amerikaner James Larkin White (Albrecht Schuch), der bei der Einreise in die Schweiz aufgehalten wird, da der Verdacht im Raum, steht, er sei in Wahrheit der vor Jahren verschwundene Schweizer Bildhauer Anatol Stiller. Zwar beteuert der Mann, dass dies ein Irrtum ist und eine Verwechslung vorliegt. Doch so sehr er auch protestiert, er schafft es nicht, die Menschen zu überzeugen, ein anderer zu sein. Welche Wahrheit stimmt? Nachdem das Drama beim Filmfest München 2025 Weltpremiere feierte, steht am 30. Oktober 2025 der reguläre Kinostart in Deutschland an. Das haben wir zum Anlass genommen, um uns mit Regisseur Stefan Haupt zu unterhalten. Im Interview spricht er über die Verdienste des Romans, die Festlegung von Identität und Männlichkeitsbilder.

Könnten Sie uns etwas zur Entstehungsgeschichte von Stiller verraten? Wie kam es zu dieser Adaption?

Ich hatte mit der Schweizer Produktionsfirma C-Films einen Film über den Schweizer Reformator Zwingli gemacht. Und das war so erfolgreich, dass wir nach dem Film Lust hatten weiter zusammenzuarbeiten. Einer der Produzenten meinte in einem Gespräch, dass man wieder die deutschsprachige Weltliteratur stärker in den Fokus nehmen und Klassiker verfilmen sollte, auch um sie einer jüngeren Generation näherzubringen, die weniger liest als früher. Er schlug dabei Max Frisch vor, worauf bei mir wie aus der Pistole geschossen „Stiller!“ kam. Ich habe den Roman schon in jungen Jahren gelesen und mag ihn sehr. Ich habe fast alles von Max Frisch gelesen.

Wenn sie so viel von ihm gelesen haben, warum fiel die Wahl auf Stiller?

Es gab da mitunter schon Gründe. Zum Beispiel finde ich, dass es ein Buch ist mit ganz außerordentlicher Weitsicht. Die Fragen, die darin aufgeworfen werden, wie die ganze Identitätsfrage oder ob wir uns ändern können, die sind schon sehr spannend. Aber auch die Beziehungsfragen: Wenn man sich tief verletzt hat, gibt es eine Möglichkeit, wieder zusammenzukommen? Oder die Frage nach dem Männerbild. Stiller hätte eigentlich im Spanischen Bürgerkrieg Faschisten erschießen sollen, er konnte aber einfach nicht abdrücken und nimmt sich deshalb als Feigling wahr. Er ist nichts Manns genug. Er wird aber auch seinen eigenen Ansprüchen als Künstler nicht gerecht und entwickelt eine Art Selbsthass. Das sind alles sehr wichtige und auch aktuelle Themen. Wir brauchen beispielsweise heute unbedingt positive Männerbilder. Und wenn wir sehen, wie misogyne Autokraten wieder das Feld bestimmen, dann ist klar, wie viel uns Stiller noch sagen kann. Aber wenn ich ehrlich bin, sind das alles Gründe, die mir erst später bewusst geworden sind. Meine Entscheidung, das Buch zu verfilmen, war eine rein intuitive Angelegenheit.

Und was waren dann die Herausforderungen, aus diesem Buch einen Film zu machen?

Die Herausforderung bei einer solchen Verfilmung ist immer, dass man die richtigen Beschränkungen vornimmt. Man wird nie alles erzählen können. Bei einer Romanverfilmung kann man außerdem auf eine gewisse Weise immer nur scheitern. Die Leute machen sich beim Lesen oft Bilder, die man selbst nicht trifft. Die man auch gar nicht treffen kann. Letztlich muss man doch eine eigene Filmgeschichte erzählen. Das passiert über Reduktion und Fokussierung. Ob man dabei richtig liegt, findet man oft erst später heraus.

Dann lassen Sie uns über die vielen Themen sprechen, die Sie schon erwähnt haben. Fangen wir mit der Identität an: Können wir unsere eigene Identität festlegen?

Ich glaube, wir können es immer nur versuchen. Das ist eine spannende Frage, weil sie eigentlich offenbleibt: Wer bin ich? Zumal wir uns ja auch verändern. Es gibt diesen bekannten Spruch, dass alles im Fluss ist und man nie in denselben Fluss steigen kann. Und das gilt auch für uns. Ich bin nicht mehr derselbe, der ich vor vierzig Jahren war. Deswegen glaube ich nicht, dass wir uns festlegen können. Diejenigen, die das wollen und sich in ein Korsett zwängen, die tun sich selbst etwas an. Gleichzeitig muss ich sagen, dass wir froh sind, wenn wir in verlässlichen Beziehungen stehen mit anderen, die nicht heute so sind und morgen so.

Sie haben schon gemeint, dass wir uns verändern. Aber ist das eine Entwicklung, die wir auch bewusst herbeiführen können? Können wir uns selbst verändern?

Ich glaube ja, aber nicht in dem Umfang, wie wir das vielleicht möchten. Es gibt die Möglichkeit, sich selbst zu erfahren und kennenzulernen, damit wir etwa auch sehen, woher Schwierigkeiten kommen, und diese vielleicht auflösen können. Aber nur weil ich etwas erkenne, ist es nicht automatisch weg. Wir werden nicht ein völlig anderer Mensch, da bleibt immer etwas zurück. Das ist auch eine Quintessenz des Romans. White muss erkennen, dass er nicht einfach Stiller zurücklassen und jemand anderes sein kann.

Sie haben eben gesagt, dass man sich selbst besser kennenlernen kann. Haben Sie durch die Arbeit an dem Film etwas über Sie selbst herausgefunden?

Das kommt glaube ich erst noch, zumindest so, dass ich es in Worte fassen kann. Ich kann aber zumindest sagen, dass ich Teile von mir in Stiller wiedergesehen habe. Was ich so großartig an dem Roman finde sowie an den Arbeiten von Max Frisch allgemein: Er ist mit sich selbst hart ins Gericht gegangen. Er hat wie mit einer Taschenlampe in seine eigenen Ecken hineingeleuchtet, auch in die unschönen Ecken.

Stiller ist ebenso selbstkritisch wie Frisch, weil er mit seiner Kunst nie so weit kam, wie er wollte. Ist das etwas, womit Sie sich identifizieren können? Waren Sie je in der Situation, dass Sie sich gefragt haben, ob das alles reicht?

Ich kenne ganz viele Kollegen und Kolleginnen, die angetrieben sind von einem Genie-Gen, vielleicht auch, weil sie bekannte Väter oder Mütter haben und eine Messlatte, die ganz hoch liegt. Das muss alles ganz toll werden, was sie machen. Bei mir ist es so, dass wenn Sie mich als 20-Jährigen gefragt hätten, ob ich je einen Kinofilm mache, dann hätte ich laut gelacht. Das war nie mein Plan. Ich bin keiner von denen, die schon als 5-Jähriger wussten, dass sie Regisseure werden wollen. Insofern war es für mich immer ein Geschenk, dass es einen Schritt weitergeht und ich überhaupt Filme drehen durfte. Mein Antrieb war immer die Freude an der Arbeit und mein Entdeckertrieb, nicht die Bewertung.

Kommen wir zum nächsten Thema: Männerbilder. Auch darüber wurde in den letzten Jahren viel diskutiert, wie diese aussehen können und sollen. Haben Sie eine Antwort darauf? Gibt es etwas, von dem Sie sagen: „Das ist ein Mann.“?

In meinem ersten Film vor über 30 Jahren habe ich ein Experiment gemacht: Ich habe zwei Männer in einen Turm auf Kreta gesteckt. Der eine war 30, der andere war 50. Ich habe ihnen eine Frage mitgegeben: Warum bist du kein Mann? Als Herausforderung. Das ist also ein Thema, das mich immer wieder beschäftigt hat. Was ist ein Mann? Weshalb fühle ich mich nicht männlich genug? Was ist das für ein imaginäres Bild von einem starken, erfolgreichen, fehlerfreien Mann, das wir übernommen haben von unseren Vätern? Inzwischen wird das zurecht attackiert. Was dabei aber zu wenig geschieht, ist die Suche nach Alternativen, nach positiven Männerbildern. In meiner Jugend war der Wunsch nach dem Softie allgegenwärtig, der einfühlsam und ganz weich sein durfte. Und doch haben die Frauen in meinem Umfeld sich häufig für den Macho entschieden…

Letzte Frage: Was sind Ihre nächsten Projekte?

Ich bin an zwei Spielfilmprojekten dran. Das eine ist das letzte Lebensjahr von Johann Sebastian Bach, weil mich seine Musik zeitlebens tief berührt hat. Ich komme aus einer Familie, in der sehr, sehr viel Musik gemacht wurde und habe auch fünf Jahre einen Chor dirigiert. Deswegen war für mich lange auch eine Frage, ob ich auf dieses Gleis einschwenke. Und dann habe ich noch einen aktuellen Stoff, der in Zürich und im Jetzt spielt. Der Arbeitstitel ist Die Tochter des Polizisten.

Vielen Dank für das Interview!



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