@ Marlene Film Production, X Verleih AG

Agnieszka Holland [Interview]

Sie ist eine der „Grandes Dames“ des europäischen Arthouse-Kinos: Agnieszka Holland lernte das Regiehandwerk unter anderem als Assistentin von Altmeister Andrzej Wajda und an der renommierten Prager Filmhochschule. Für Wajda schrieb sie auch die Drehbücher zu dessen Filmen Eine Liebe in Deutschland (1983, basierend auf der Novelle von Rolf Hochhut) und Danton (ebenfalls 1983, zusammen mit Ko-Autor Jean-Claude Carrière). Doch schon bald entwickelte sie ihre eigene Regie-Handschrift, etwa bei ihren ersten internationalen Erfolgen Bittere Ernte (1985) und Hitlerjunge Salomon (1990). In ihrer neuesten Arbeit Franz K. beschäftigt sich Agnieszka Holland mit einem ihrer Lieblingsschriftsteller, dessen Werk sie bereits als Schülerin begeisterte. Ihr Film ist keine klassische Filmbiografie über Kafka, sondern eine nicht-lineare Collage aus Begebenheiten, Fantasien und Werk-Auszügen, die mehrere Ebenen miteinander verschmilzt. Zum Kinostart am 23. Oktober 2025 sprachen wir mit der Regisseurin über die touristische Vermarktung von Frank Kafka, seine Aktualität und Gegenwärtigkeit und über die Herausforderungen im Schneideraum.

Sie sagen, Franz Kafka sei Ihnen nahe wie ein Bruder. Was genau meinen Sie damit?

Als ich ein Teenager war, habe ich sein Werk und seine Briefe gelesen. Und auch Biografisches über ihn. Dadurch entstand der Eindruck, dass ich ihn kenne und dass er mir nah ist. Als wäre er mein etwas zerbrechlicher Bruder, den ich bewunderte.

Welche Bücher haben Sie sich in der Vorbereitung auf den Film noch einmal vorgenommen? Sein Werk ist ja relativ schmal, aber es gibt Abertausende Bände Sekundärliteratur.

Ich bin auf sein Werk immer wieder zurückgekommen, in meinem ganzen intellektuellen Leben. 1981 habe ich seinen Roman „Der Prozess“ fürs polnische Fernsehen adaptiert. Das war eine wichtige Arbeit für mich. Denn es fühlte sich an, als würde ich den Roman komplett auseinandernehmen und für die TV-Bearbeitung wieder zusammensetzen. Das war sehr aufregend, eine Art Schlüsselerlebnis. Damals hatte ich den Eindruck, dass ich sein Werk verstand. Von da an war er mein Begleiter über mein ganzes Leben, mal sehr nahe und mal ein wenig distanzierter. Vor ein paar Jahren arbeitete ich an einem anderen Film in Prag. Und als ich merkte, dass meine Produzenten offen für die Idee waren, einen Film über Franz anzugehen, dachte ich, jetzt ist der Moment, nach Franz zu suchen, in einer Art von biografischer Arbeit. Zugleich wusste ich aber, dass es unmöglich sein würde, ihm mit einer klassisch linearen Filmbiografie gerecht werden zu können. Mein Film ist daher eine Suche nach Franz. Ich sage bewusst Franz und nicht Kafka. Denn Kafka war in Prag nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine Marke, ein touristisches Marketingobjekt, mit dem sich Geld verdienen lässt. Ich suchte nach dem Mann hinter dem Wust von Interpretationen, Biografien, Analysen und Bildern, von denen ich einige für falsch oder oberflächlich hielt. Deshalb ist der Film als eine Suche angelegt.

Leben und Werk von Franz Kafka bieten so viel Material, dass das Fernsehen in Deutschland daraus im vergangenen Jahr, zum Gedenken an seinen 100. Todestag, eine Mini-Serie gemacht hat. Mit welcher Strategie sind Sie an diese Fülle herangegangen und wie haben Sie sie in gut zwei Stunden gepackt?

Ich habe diese Serie gesehen, auch weil sie auf der umfangreichen Biografie von Reiner Stach basiert. Es steht mir nicht zu, diese Episoden zu beurteilen, aber ich dachte, sie sind gemacht im Jubiläumsjahr seines Todes und wollen aus diesem Anlass an ihn erinnern. Aber für mich war Franz nie tot. Mir ging es darum, meine persönliche Beziehung zu ihm zu erneuern – und die Fragen zu stellen, die ich an ihn habe. Deswegen wollte ich auch gar nicht an diesem 100. Todesjahr teilhaben.

Wie haben Sie den Charakter der Filmfigur Franz angelegt? Als was für einen Menschen wollten Sie ihn zeigen?

Ich bin nicht mit einem a priori vorgefertigten Bild von ihm an die Arbeit mit Drehbuch-Koautor Marek Epstein herangegangen. Einiges war intuitiv und entsprang meiner emotionalen Verbindung zu Franz. Wir wollten die Methode des Suchens thematisieren, anhand verschiedener Fragmente, Puzzleteilen, Statements sowie der Auswirkungen seiner Person auf die gegenwärtige Welt. Und auch dadurch, dass wir Auszüge aus seinen Briefen und Werken präsentieren und zum Teil visualisieren. All das soll sich zusammenfügen nicht als eine Antwort, sondern als ein Ensemble von Fragen.

Es gibt verschiedene Ebenen im Film. Sie haben bereits über die Ebene der Kafka-Vermarktung im gegenwärtigen Prag gesprochen, die unter anderem in Form einer Touristenführung und eines Audio-Guides im Film vorkommt. Zusätzlich gibt es eine Art quasi-dokumentarischer Ebene, bei der Franz‘ Verwandte und Freunde sich direkt ans Publikum wenden und ihre Ansichten über ihn mitteilen. Wie kam es zu der Entscheidung, auch diese Ebene noch hinzuzufügen?

Wir wollten verschiedene Zeitebenen miteinander verbinden. Deswegen wollten wir nicht nur die aktuelle touristische Vermarktung einbeziehen, sondern dass Franz auch in anderer Weise gegenwärtig für uns heutige Menschen ist. Er ist verzweifelt und verwirrt und damit spricht er direkt zu uns, seine Probleme sind auch unsere. Sein Leben und Schreiben weist in die Zukunft, er nimmt emotionale Zustände und ein In-der Welt-Sein vorweg, das uns heute viel vertrauter ist als seinen Zeitgenossen. Er lebt, er ist hier. Wenn wir in die Vergangenheit gehen, in der er real gelebt hat, dann wollten wir, dass seine Verwandten und Freunde, also der Vater, seine Schwester Ottla und sein Freund Max Brod ebenfalls heute präsent sind. Dass sie also zu uns sprechen, und zwar über etwas, das Anfang des 20. Jahrhunderts passiert ist. Dass sich also die Zeiten vermischen und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht streng getrennt werden. Es ist ein bisschen wie die der Quantenphysik. Raum und Zeit existieren in derselben Zeit.

Das hat in der Tat mit einer linearen Erzählung nichts mehr zu tun.

Wenn man sich den Aspekt der Erzählökonomie einer klassischen Filmbiografie anschaut, dann fließt eine Menge Energie in das Inszenieren und Dramatisieren der Information. Man muss die Informationen szenisch ausbreiten, die Voraussetzung dafür sind, das Leben eines berühmten Mannes oder einer berühmten Frau nachvollziehen zu können: Wie kam es zu dieser Situation, was folgte daraus und wie ging es weiter. Wenn ich aber die Möglichkeit habe, mit Pseudo-Interviews oder mit einer gegenwärtigen Touristenführerin zu arbeiten, dann kann ich diese Information zu ein paar Minuten Filmzeit komprimieren. Der Rest der Realität, den wir zeigen, hat dann nicht die Schwere einer Pflicht, das Publikum zu informieren und Fakten zu liefern, die man vielleicht mal in der Schule gehört und dann wieder vergessen hat.

Wie herausfordernd war es, die drei Ebenen im Schnittprozess miteinander zu verschmelzen?

Die Arbeit im Schneideraum war entscheidend. Als wir die Szenen in der Weise zusammenfügten, wie sie in der Reihenfolge des Drehbuchs vorgesehen waren, funktionierten sie nicht. Wir mussten das Ganze also auseinandernehmen und neu zusammensetzen. Manche Szenen funktionierten, viele aber nicht. Wir haben im Schnittprozess die Reihenfolge verändert, aber auch den Rhythmus. Wir haben zum Teil Dinge hinzugefügt. Auch die Musik war sehr wichtig, um uns durch manche Sequenzen zu leiten. Außerdem hatten wir beim Drehen nicht einfach nur das Drehbuch abgefilmt, sondern spontane Ideen, etwa der Schauspieler, aufgegriffen. Oder wir hatten auf bestimmte Bedingungen am Drehort reagiert. Wir hatten also sehr viel Material, das sehr leicht hätte inkohärent wirken können. Im Schneideraum mussten wir es so zusammensetzen, dass sich eine Geschichte daraus formt.

Zur Person
Agnieszka Holland wurde 1948 in Warschau geboren. In ihrer Karriere hat sie bei über 30 Filmen Regie geführt. Ihr Debüt Provinzschauspieler wurde mit dem Preis der International Critics’ Jury bei seiner Premiere auf dem Cannes Film Festival im Jahr 1979 ausgezeichnet. Zwei Jahre später lief ihr Film Fieber im Wettbewerb der Berlinale und erhielt einen Silbernen Bären für die schauspielerische Leistung der Hauptdarstellerin Barbara Grabowska. Im selben Jahr, kurz vor der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 in Polen, emigrierte Holland nach Paris. Ihr erster Film, der nach der Auswanderung entstand, war der Oscar-nominierte Bittere Ernte (1985). Mit Hitlerjunge Salomon (1990) gewann Holland schließlich einen Golden Globe und wurde erneut für den Oscar nominiert. Im Jahr 1993 zog es Holland schließlich in die USA, wo sie ihren ersten Hollywood-Film Der geheime Garten inszenierte. Drei ihrer jüngsten Filme liefen erfolgreich auf der Berlinale: Die Spur (2017, Gewinner des Silbernen Bären), Red Secrets – Im Fadenkreuz Stalins (2019) sowie Charlatan (2020). Das Aufsehen erregende und viel diskutierte Flüchtlingsdrama Green Border lief 2023 auf dem Filmfest Venedig und erhielt dort den Spezialpreis der Jury.



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