
Hamburg, im beliebten Schanzenviertel: Ein Orkan rückt an, der HSV spielt gegen St. Pauli und bei Bauarbeiten taucht eine tonnenschwere Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg auf. Mittendrin stecken Lane (Anne Ratte-Polle) und ihr erfahrener Kollege Otto (Bernhard Schütz) vom Kampfmittelbeseitigungsdienst. Lanes demente und angsterkrankte Mutter Margit (Barbara Nüsse), die grundsätzlich nicht mehr aus dem Haus geht, wohnt direkt im Sperrgebiet, ebenso wie ihr unkonventioneller Nachbar Viktor (Karl Markovics). Auch Lane kämpft mit Panikattacken. Deshalb braucht sie von Ava (Haley Louise Jones), der neuen Psychologin ihres Teams, unbedingt die Unterschrift unter ein Unbedenklichkeitsgutachten, um bei der Räumung dabei zu sein. Zumal sich Otto krank meldet, weil er gerade die Nachricht vom Verdacht auf Prostatakrebs erhalten hat. Viele tickende Zeitzünder – innere und äußere – also in einem episodenhaften Ensemblefilm, der weitaus humorvoller daherkommt, als die Ausgangslage vermuten lässt.
Eine Farbe und ihre Metaphern
Es ist schon Nacht, als Lane sich das Kriegsüberbleibsel, das wir im Alltag gerne verdrängen, noch einmal genauer anschaut. Vorsichtig steigt sie in die Baugrube, holt Luft zur Entspannung und legt ihre Hand fast zärtlich auf das angerostete Metall. Es ist, als würde sie, immer noch tief ein- und ausatmend, Freundschaft schließen wollen mit dem todbringenden Monster. Beide, den Menschen und das Material, tauchen die Lampen der Absperrung in intensiv leuchtendes Rot. Die Farbe wird so etwas wie ein Leitmotiv des Films werden. Sie steht für die alarmierende Gefahr, für das Blut einer möglichen Katastrophe, aber auch für Zuneigung, Freundlichkeit, vielleicht auch Liebe. Denn das ist das Optimistische an Kerstin Poltes Auseinandersetzung mit den Traumata des Krieges und ihren Nachwirkungen auf die zweite und dritte Generation. Sie zeigt nicht nur das Zerstörerische, sondern zugleich Ansätze zur Heilung.
Hier kommt auch der Humor ins Spiel, der schon Kerstin Poltes Spielfilmdebüt Wer hat eigentlich die Liebe erfunden (2018) auszeichnete. Auch dort war der Auslöser des Plots ein trauriger, nämlich die Demenzerkrankung der von Corinna Harfouch gespielten Ehefrau, Mutter und Großmutter. Aber inszeniert war die Geschichte in einem märchenhaften, heiteren und teils skurrilen Ton. Etwas dezenter, aber genauso tragikomisch geht es in Blindgänger mit seiner zwischen Realismus und Poesie oszillierenden Inszenierung zu. Die leisen Gags erwachsen hier nicht wie noch im Vorgänger aus konstruiert wirkenden Umschwüngen, sondern aus der liebevoll gezeichneten Widersprüchlichkeit von Charakteren und Situationen. Die demente Margit zum Beispiel benutzt noch ein uraltes Telefon mit Wählscheibe, geht aber erstaunlich souverän mit einer künstlichen, leicht futuristischen Intelligenz namens „Ramona“ um. Mit ihr führt sie kleine Dialoge, lässt sich ihr Lieblingslied vorspielen und an die Einnahme ihrer Medikamente erinnern. Oder nehmen wir den abgebrühten, durch Gefahr gestählten Otto: Wie er unter dem Eindruck von Krankheit und Ehekrise (seine Frau hat eine Affäre mit einem 35 Jahre jüngeren Kollegen) Freundschaft mit einem evakuierten Hasen schließt, ist hinreißend zärtlich, aber auch urkomisch gespielt.
Diverses Ensemble
Neben der Balance zwischen Tragik und Humor geht es aber auch um das Gleichgewicht der vielen Charaktere, die teils miteinander verwandt sind, sich teils beruflich kennen und teils erst im Laufe der Evakuierung aufeinander treffen. Hier zeigt sich eine gewisse thematische Schwäche von Blindgänger. Es geht einerseits um den Zweiten Weltkrieg und die Verdrängung der 1950er und 1960er Jahre. Andererseits lässt der Film auch die aktuelle Zerrissenheit, Orientierungslosigkeit und Vereinsamung einer Gesellschaft mitschwingen, in der sich seit der Pandemie Wut und seelische Zeitbomben häufen. Manche Figuren sind direkt vom Krieg gezeichnet oder haben das Trauma ihrer Eltern geerbt. Andere sind dafür eher zu jung oder tragen sonstige Konflikte mit sich herum. Das führt zum Zerfasern der Bombenmetapher, zumal die meisten Charaktere zu wenig Filmzeit bekommen, um tiefer in Hintergründe und Motivationen einsteigen zu können. Generell lässt sich der Eindruck kaum vermeiden, dass ein möglichst diverses Ensemble der Treiber für die Figurenkonstellation war, mit Schwerpunkt auf queeren und migrantischen Hintergründen. Das ist im Sinne der Vielfalt natürlich zu begrüßen, aber hier wirkt es manchmal gewollt.
Sehenswert ist aber, wie sich in der zweiten Filmhälfte Zweiergrüppchen bilden, von denen man anfangs kaum gedacht hätte, dass sie angesichts ihrer Vorurteile zueinanderfinden könnten. Hier kehrt der Film zu konzentrierten Momenten zurück, die über lose Enden und lediglich angerissene Charakterzeichnungen hinweghelfen. Besonders die widersprüchliche Beziehung zwischen Lane und ihrer zunächst skeptischen Psychologin Ava führt zu szenischen Höhepunkten, etwa wenn Lane in einer Panikattacke auf die Toilette flüchtet, Ava ihr folgt und sie einfach nur dadurch beruhigt, indem sie die Angstkranke ganz fest hält und mit ihr atmet. Am Ende steht das Rot eben nicht für den reinen Spannungsthriller à la Lohn der Angst (von Henri-Georges Clouzot, 1953). Sondern für den zwischenmenschlichen Wärmestrom, den zerrissene Gesellschaften wie die heutigen so nötig haben.
OT: „Blindgänger“
Land: Deutschland
Jahr: 2024
Regie: Kerstin Polte
Drehbuch: Kerstin Polte
Musik: Daniel Hobi, Ephrem Lüchinger
Kamera: Katharina Bühler
Besetzung: Anne Ratte-Polle, Haley Louise Jones, Claudia Michelsen, Bernhard Schütz, Lukas von Horbatschewsky, Karl Markovics, Daniel Sträßer, Barbara Nüsse, Thelma Buabeng, Anne Schäfer, Enrique Fiß, Ivar Wafaei
Ihr wollt mehr über den Film erfahren? Wir hatten die Gelegenheit, uns mit Regisseurin Kerstin Polte zu unterhalten. Im Interview zu Blindgänger sprechen wir über die Arbeit an dem Drama und multiperspektivisches Erzählen.
Filmfest Hamburg 2024
Nordlische Filmtage Lübeck 2024
achtung berlin 2025
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)