
Das kleine mexikanische Städtchen El Alberto ist im dokumentarischen Night of the Coyotes („Nacht der Koyoten“) Austragungsort eines bizarr anmutenden Schauspiels: Die wenigen verbliebenen, hauptsächlich indigenen Bewohner*innen –die Mehrheit ist bereits in die ca. 1000 Kilometer entfernten USA emigriert – führen den gefährlichen, illegalen Grenzübertritt als Attraktion für Tourist*innen auf solch realistische Weise auf, dass diese die beschwerliche Reise gen Norden hautnah nachempfinden können. Regisseurin und Drehbuchautorin Clara Trischler hält in dieser deutsch-österreichischen Produktion die schon seit Jahren etablierte, obskure Tradition namens „Caminata Nocturna“ filmisch fest, zeigt den Alltag in der Gemeinde und legt vor allem offen, wie sich die Bevölkerung inmitten dieser schmerzhaften Situation wieder selbst ermächtigen möchte.
Zwischen Dreck und Stacheldraht
Im Cold Opening wird direkt die Prekarität der kriminalisierten Einreise in die USA deutlich: Inmitten von Dickicht und noch halbwegs stehenden Hausmauern bahnt sich eine Gruppe an Teilnehmenden den simulierten Weg über die mexikanisch-amerikanische Grenze. Es plagt sie Durst, Dunkelheit und das durchgehende Risiko, erwischt oder gar „erschossen“ zu werden. Die „Coyotes“, quasi Tourguides, agieren zwar bemüht unterstützend auf dem Weg, doch sobald die Grenzwächter mit ihren Schrotflinten kommen, gilt der Migrationsversuch schnell als gescheitert. Und obwohl Night of the Coyotes ein Dokumentarfilm ist und es schnell klar wird, dass die „Caminata Nocturna“ nur Theater ist, besteht ab der ersten Minute Spannung. Erreicht wird dies durch eine fast schon thrillerhafte Kameraführung zusammen mit dem düsteren Dunkelblau der Nacht, durch die hektische Schritte, Ausrufe und Warnschüsse hallen. Auch müssen die Tourist*innen vollen Körpereinsatz zeigen, indem sie zwischen Drahtzäunen hindurchkrabbeln oder über offenliegendes Gebiet sprinten.
Im starken Kontrast dazu steht die darauffolgende weitwinklige Perspektive, die El Alberto zusammen mit seinen Einwohner*innen, brachliegenden Flächen und leerstehenden Häusern übersichtlich darbringt, und die Helligkeit des bald wieder erscheinenden Tageslichts. Kaum war man noch inmitten des stressigen Migrationsgeschehens, ist man im Alltag der Gemeinde angelangt; nur der „Border Patrol“-Truck von Virgilio, der selbst aus den USA zurück nach Mexiko abgeschoben wurde und nun einen Grenzpolizisten spielt, zeugt vom gar nicht mal so spaßigen und mittlerweile unnahbar wirkenden Versuch, die „Grenze“ zu überqueren.
Auch wenn El Alberto herbe Abwanderung zu verzeichnen hat, gibt die Bevölkerung ihr Bestes, ihren Heimatort irgendwie attraktiv zu halten: Es wird Englisch gelernt, man dreht Werbe-TikToks in trostloser Umgebung, das örtliche Erlebnisbad wird mit spärlich verteilten Schwimmenden mehr schlecht als recht auf Trab gehalten. Gleichzeitig achten die indigenen Otomí darauf, ihre Wurzeln und ihre Sprache nicht zu vergessen. Kinder singen in der Schule traditionelle Lieder, spielen ganz analog mit Insekten, zeigen Freude am lokalen Leben. Und doch schimmert immer wieder die zugrundeliegende Melancholie aufgrund auseinandergerissener Familien hindurch, so am Beispiel der elfjährigen Rebeca, die von ihrer in die USA gewanderten Mutter bisher noch nichts gehört hat, oder der älteren Felicitas, die nur ungern ihren nach und nach emigrierten Familienmitgliedern folgen möchte.
Aufeinanderprallende Gegensätze
Generell ist Night of the Coyotes Zeugnis eines grassierenden Dualismus innerhalb indigener Gemeinschaften in Mexiko. Begibt man sich auf die leider viel zu oft tödliche Route mit der theoretischen Aussicht auf ein besseres Leben in den Vereinigten Staaten oder versucht man, seit Jahrtausenden bestehende Traditionen zu erhalten? Lernt und lehrt man die vom Aussterben bedrohte Otomí-Sprache oder passt man sich den oftmals englischsprechenden Tourist*innen an, um damit mehr Einnahmen generieren zu können? Der Film bildet taktisch und sorgfältig erzählend das Hin und Her ab, in dem sich die Bewohnenden stetig wiederfinden – die Nacht wechselt sich mit dem Tag ab, die Tradition mit der Moderne, der Spaß mit dem Ernst, die nervenaufreibenden Hatz-Szenen mit dem friedlichen Landleben.
Clara Trischler gibt hierbei den Originalstimmen genügend Raum, um ihre Wahrnehmungen, Sorgen und Gefühle zu schildern, wobei die atmosphärischen Bilder des Umlands begleitend wirken. Beim Max Ophüls Preis 2025 feiert der Dokumentarfilm, der von Anfang an Empathie und Betroffenheit hervorruft sowie die Zukunfts- und Existenzängste der Einwohnenden ungeschönt abbildet, seine deutsche Erstaufführung.
OT: „Night of the Coyotes“
Land: Deutschland, Österreich
Jahr: 2024
Regie: Clara Trischler
Drehbuch: Clara Trischler
Musik: Anna Ljungberg
Kamera: Miriam Ortiz Guzmán
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