Quell’estate con Irène My Summer with Irene

My Summer with Irène

Inhalt / Kritik

Auf den ersten Blick sind Clara (Camilla Brandenburg) und Irène (Noée Abita) zwei Teenager wie viele andere: ein bisschen gelangweilt, ein bisschen verträumt und ein bisschen rebellisch. Doch schon bald schleichen sich ernste Untertöne in das Bild eines unbeschwerten Ferienlagers, bei dem sich die beiden 17-Jährigen kennenlernen. Man solle sich nicht überanstrengen und nie den Sonnenschutz vergessen, ermahnt die Stimme einer Erwachsenen aus dem Off. Das gelte vor allem für die, die erst vor kurzem ihre Therapie abgeschlossen haben. Welcher Art die Krankheit ist, die einen Schatten auf das Leben der jungen Leute wirft, verrät der zweite Film des Italieners Carlo Sironi nicht explizit. Aber er gibt genügend Hinweise, dass es sich um etwas so Bedrohliches wie Krebs handeln muss. Die Abenteuer der Jugend haben Clara und Irène bislang vermutlich verpasst. Und so genießen sie unser vollstes Verständnis, als sie nach dem Ende des Lagers nicht zu den Eltern zurückkehren, sondern gemeinsam ausbüchsen und auf eine Insel bei Sizilien fahren, um den ersten unbeschwerten Sommer ihrer Pubertät zu erleben.

Verwandtschaft ungleicher Seelen

„Erst der Kaffee, dann die Poesie“, fordert Irène, als Clara der gerade Erwachten sofort den verwunschenen Zauberwald zeigen möchte, den sie bei einem frühmorgendlichen Streifzug entdeckt hat. Der Spruch wirft ein Licht auf die Verschiedenheit der beiden. Hier die verträumte, zerbrechlich wirkende Clara, in sich gekehrt und sich oft absondernd. Dort die pragmatische Irène, die das Abenteuer sucht und sich von niemandem Vorschriften machen lässt. Trotzdem sind sie beide der Poesie verfallen, wie eine zauberhafte Symbolisierung ihrer Seelenverwandtschaft schon zu Beginn des Films deutlich macht: Clara sitzt allein unter einem Baum, still in ein Buch vertieft. Ein paar Meter entfernt hört Irène mit drei anderen Mädchen zu, wie eine vierte aus einem Roman vorliest, in Blickkontakt zu Clara.

Poesie ist auch das Stichwort für die Ästhetik des Films. Carlo Sironi erzählt die Geschichte einer Sommerfreundschaft wie ein Gedicht, mit erlesen ausgeleuchteten Einstellungen, zarten Andeutungen und sparsamer Symbolik. Kaum etwas wird auserzählt, vieles bleibt Andeutung oder Leerstelle. Der Augenblick ist das, was zählt, ähnlich den Sommerfilmen von Éric Rohmer (Pauline am Strand, 1982; Das grüne Leuchten, 1986), mit denen My Summer with Irène die beobachtende Haltung teilt. Aber im Gegensatz zu Rohmer entwirft Carlo Sironi keine distanzierte Versuchsanordnung, sondern wirbt um Empathie und Sympathie für seine Protagonistinnen, wenn auch äußerst minimalistisch und zurückgenommen.

Keine Angst vor Gefühlen

Die zweite Arbeit des Italieners nach dem preisgekrönten Sole (2019) besticht vor allem durch die Intensität der Stimmungen, die fast ohne Worte die Geschichte einer besonderen Mädchenfreundschaft erzählen. „Habt keine Angst vor euren Gefühlen“, werden die Mädchen im Ferienlager ermuntert. Und dann sollen sie mit einem Bild ausdrücken, wie sich ihre Emotion anfühlt. Von solchen Visualisierungen lebt auch der Film. Eine Höhle, ein Wald, eine Steilküste erzählen immer ein Stück weit auch etwas darüber, wie sich die beiden einander annähern. Wie sie sich stumm verstehen, weil sie beide ein ähnliches Schicksal teilen, in das sich kein anderer wirklich hineinfühlen kann. Und wie sie instinktiv das Richtige tun, wenn eine mal Kopfschmerzen hat oder einen Schwächeanfall, wenn die andere urplötzlich verschwunden ist und in Gefahr schweben könnte.

Die typischen Coming-of Age-Themen wie erste Liebe werden dabei gestreift, aber ohne die genretypische Dramatik. Gleichgeschlechtliche Anziehung mag eine gewisse Rolle spielen, führt aber nicht zu Verwicklungen. Und es gibt auch keine Eifersucht, als sich Clara in einen Jungen verliebt. Der Fokus des Films liegt ganz auf der Sinnlichkeit eines unvergesslichen Sommers, von dem auch nicht verraten wird, wie er wohl geendet hat. Nur eines ist sicher: Die gemeinsame Zeit wird als bleibendes Erlebnis das weitere Leben mitbestimmen, ganz egal, was die Zukunft bringt. Man wird sich an sie erinnern, und das nicht nur, weil Clara eines Tages eine Videokamera findet und die (weitgehend) sorglosen Tage festhält. Der Minimalismus des Films birgt jedoch eine Kehrseite. Trotz beeindruckender Leistungen der beiden Hauptdarstellerinnen fehlt der Spannungsbogen, der das Publikum über 90 Minuten bei der Stange hält. So bleibt My Summer with Irène eher eine impressionistische Sammlung schöner Eindrücke denn ein fesselndes Porträt einer Mädchenfreundschaft. Für Letzteres hätte man dann doch mehr über Hintergründe und das frühere Schicksal der ungleichen Freundinnen erfahren müssen.

Credits

OT: „Quell’estate con Irène“
Land: Italien, Frankreich
Jahr: 2024
Regie: Carlo Sironi
Drehbuch: Carlo Sironi, Silvana Tamma
Musik: Lionel Boutang
Kamera: Gergely Poharnok
Besetzung: Noée Abita, Camilla Brandenburg, Claudio Segaluscio, Gabriele Rollo, Beatrice Puccilli

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fazit
Der zweite Film des Italieners Carlo Sironi lief in der Jugendreihe „Generation 14plus“ auf der Berlinale und besticht durch seine poetische Leichtigkeit. Aber der komplette Verzicht auf ernsthafte Konflikte beraubt das Coming-of-Age-Genre seines dramaturgischen Bogens.
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