
1917, in der burmesischen Hafenstadt Rangun (heute Myanmar): Der britische Kolonialbeamte Edward (Gonçalo Waddington) steht mit Blumen am Kai. Er wartet auf seine langjährige Verlobte Molly (Crista Alfaiate), die mit dem Schiff aus London anreist. Sieben Jahre hat sich das Paar nicht gesehen, aber jetzt will es heiraten. Edward erinnert sich allerdings nicht einmal mehr an Mollys Gesicht. Je länger er völlig durchnässt, nach einem durchzechten Tag und einer alptraumhaften Nacht hier wartet, desto unaufhaltsamer kriecht Panik durch seinen Körper. Hastig besteigt er ein Schiff nach Singapur, um vor Molly zu fliehen. Doch die lebenslustige Verlobte versinkt keineswegs in Depressionen. In bemerkenswerter Hartnäckigkeit reist sie Edward nach, auf einer großen Südostasienreise, die im frühen 20. Jahrhundert tatsächlich eine touristische Attraktion war: von Myanmar (Burma) nach Singapur, Thailand, Vietnam, die Philippinen, Japan und schließlich nach China. So könnte man ganz grob die Handlung dieses außergewöhnlichen Films erzählen. Und erfasst doch höchstens ein Viertel dessen, was in einem ganz eigenen cineastischen Universum an Themen und Genres gestreift wird.
Mopeds im Walzertakt
Viel eher muss man sich den Mix aus Doku und Spielfilm so vorstellen: Eine Autorikscha rast durch den tosenden Verkehr von Bangkok, die Kamera klebt fast am Hinterkopf des Fahrers. Auf der Tonspur erzählt eine Frau, dass Edward auf dem Weg in den Palast ist, um widerwillig den Geburtstag des Prinzen zu feiern. Schnitt in die Vergangenheit: Wir sehen Edward auf dem Fest, wo er sich unwohl fühlt und das er bei der erstbesten Gelegenheit wieder verlässt. Auf der Tonspur erklingt zum Tanz der Donauwalzer. Schnitt zurück in die Gegenwart: ein kleines Fischerboot auf einem großen Fluss. Die Frau auf der Tonspur erklärt, dass Edward als illegaler Passagier mit dem Boot bis nach Saigon fährt. Der Walzer läuft unterdessen weiter, denn er dient vor allem der Untermalung (und Verfremdung) der nächsten heutigen Szene, die den Verkehr von Saigon als dokumentarische Choreographie von unzähligen Mopeds und Rollern inszeniert.
In Zeitlupe und wie im Dreivierteltakt fädeln sich die vollbepackten Zweiräder in den Kreisverkehr ein, rollen kreuz und quer durcheinander, scheinen sich zu verknäulen und finden doch heil aus dem Kreisel heraus. Der „Tanz“ der Mopeds ist eine der eindringlichsten Szenen des Films, heiter und beschwingt, aber unterfüttert mit einem Schuss Ironie. So stellen wir Westler uns gern das Gewusel der asiatischen Metropolen vor. Der Blick der Kamera ist romantisch und entlarvend zugleich – wegen des darin steckenden kolonialistischen Blicks, den Regisseur Miguel Gomes auch in Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld (2012) auf schillernde Weise thematisiert. Überhaupt verbindet das neue Werk viel mit dem früheren Film. Etwa die Mischung aus Poesie und Experiment, aus nostalgischer und kritischer Betrachtung, aus gewohnter Erzählstruktur und dem beständigen Aufbrechen derselben. Auffällig zudem: die erneut tiefe Verbeugung vor der Stummfilmära und ihren Stars. Vor allem Crista Alfaiate als Molly könnte mit ihren halblangen Locken als Wiedergeburt von Asta Nielsen und Co. durchgehen.
In Grand Tour verschmilzt der portugiesische Regisseur insbesondere die Gegensatzpole Realität und Kino, wirkliche Außenwelt und deren Transformation in der Traumfabrik. Die Grundidee stammt aus Somerset Maughams Reiseroman Der Gentleman im Salon. Dort wird auf zwei Seiten die Geschichte des feigen Bräutigams erzählt. Aber bevor Gomes das Drehbuch mit drei Co-Autoren schrieb, unternahm er zunächst selbst die beschriebene Reise, in der Jetztzeit und ausgestattet mit einer 16-Millimeter-Kamera. Erst auf Basis des dokumentarischen Materials entstanden die frühen Fassungen der historischen Liebesgeschichte, die komplett in einem Studio aufgenommen wurde.
Anspielung auf Screwball-Komödien
Der Film erzählt also zugleich von der äußeren Welt und vom Innenleben seiner Figuren. Er taucht in die komplett unterschiedlichen Seelen von Molly und Edward ein, verflicht ihre Reise durch Südostasien mit einer Erkundung der Psyche. Und dies auf durchaus heitere, locker hingeworfene Weise, in Anspielung auf die großen Screwball-Komödien der 1940er Jahre, in der tatkräftige Frauen das Heft in die Hand nehmen und bindungsscheue Männer aus ihrer Weltflucht in den Hafen der Ehe treiben. Zugleich wechseln die Tonlagen wie die Reiseorte und die angerissenen Themenkreise. Melancholie spielt eine wichtige Rolle, ebenso die Stadien einer Depression und der Ausweg daraus.
Faszinierend ist vor allem, wie beiläufig-elegant Miguel Gomes die Collage seines sehenswerten cineastischen Kosmos‘ zu einem organischen Ganzen vereint, das von einem kontrastreichen Schwarz-Weiß lebt. Sein Film ist alles andere als eine intellektuelle Kopfgeburt. Er ist Kino pur, geboren aus einem Gefühl für starke Bilder. Dass die unterschiedlichsten Elemente wie selbstverständlich ineinander fließen, verdanken sie auch der Musik, die sie – wie in der zitierten Moped-Szene – zum Tanzen bringt. Natürlich ist Gomes‘ neueste Arbeit, für die er 2024 den Regiepreis in Cannes erhielt, vor allem etwas für ein eingefleischtes Arthouse-Publikum, wie schon seinen früheren Filme. Aber der Portugiese unterstreicht mit Grand Tour erneut, warum er zu den kreativsten Filmemachern unserer Zeit zählt.
OT: „Grand Tour“
Land: Portugal, Italien, Frankreich, Deutschland, Japan, China
Jahr: 2024
Regie: Miguel Gomes
Drehbuch: Miguel Gomes, Mariana Ricardo, Telmo Churro, Maureen Fazendeiro
Kamera: Guo Liang, Rui Poças und Sayombhu Mukdeeprom
Besetzung: Gonçalo Waddington, Crista Alfaiate, Cláudio da Silva, Lang Khê Tran
Cannes 2024
Toronto International Film Festival 2024
Filmfest Hamburg 2024
International Film Festival Rotterdam 2025
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