Die Linie La ligne The Line
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„Die Linie“ // Deutschland-Start: 18. Mai 2023 (Kino) // 30. November 2023 (DVD)

Inhalt / Kritik

Die 35-jährige Margaret (Stéphanie Blanchoud) ist jemand, der schon einmal kräftig zuschlägt, wenn ihr etwas nicht passt. Und das kommt häufiger vor, ihr Körper ist gezeichnet von den Ausbrüchen ihrer Gewalttätigkeit. Als eines Tages ein Streit mit ihrer Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi) eskaliert, kommt es zur Katastrophe: Letztere wird so schwer verletzt, dass sie ins Krankenhaus muss. Zudem verliert sie auf einem Ohr ihr Gehör, was für die ehemalige Konzertpianistin, die ihr Leben der Musik gewidmet hat, die Höchststrafe ist. In Folge erwirkt sie ein Kontaktverbot, ihre Tochter darf nicht mehr mit ihr sprechen und sich ihr auch nicht mehr als 100 Meter nähern. Während Margaret versucht, in der Zwischenzeit ihr Leben wieder unter Kontrolle zu bringen, stehen ihre jüngeren Schwestern Louise (India Hair) und Marion (Elli Spagnolo) zwischen den Fronten, worunter vor allem Letztere schwer leidet …

Starke Rückkehr und eine kaputte Familie

Lange musste man sich gedulden, bis ein neuer Film von Ursula Meier herauskam. Sicher, untätig war die französisch-schweizerische Regisseurinnen nicht in den letzten Jahren. Sie drehte einen Dokumentarfilm, zwei Kurzfilme, auch bei der Serie Schockwellen war sie beteiligt. Ihr letzter Spielfilm liegt jedoch viele Jahre zurück, seit Winterdieb (2012) gab es nichts Neues mehr. Umso größer war die Freude, als sie sich zehn Jahre später mit Die Linie zurückmeldete. Umso mehr, da sich die lange Wartezeit gelohnt hat. Das Porträt einer dysfunktionalen Familie steht dem besagten sehr guten Drama um einen stehlenden Jugendlichen in nichts nach. Tatsächlich gehört es zu den Höhepunkten des aktuellen Kinojahrs, obwohl – oder weil – es dem Publikum die Sache nicht einfach macht. Das fängt schon damit an, dass die Zuschauer und Zuschauerinnen hier mitten in den Streit hineingeworfen werden, ohne zu wissen, wer diese Leute eigentlich sind und was genau da vorgefallen ist.

Erst nach und nach verrät Meier, die zusammen mit Hauptdarstellerin Stéphanie Blanchoud und Antoine Jaccoud das Drehbuch geschrieben hat, Hintergründe und gibt Kontexte. Der Streit an sich spielt dabei aber auch gar nicht die große Rolle, selbst wenn er natürlich heftige Folgen hatte. Vielmehr ist er der Anlass, um in Die Linie die Familie zu sezieren. Genauer sind es die Frauen, die Meier interessieren. Männliche Figuren gibt es zwar. Aber selbst die beiden einzigen, die wirklich häufiger auftreten, sind nur Nebenrollen, die sich auch gar nicht wirklich durch ihren jeweiligen Charakter hervortun, sondern die Funktion, die sie im Leben der Frauen einnehmen. Julian, verkörpert von dem bekannten französischen Sänger Benjamin Biolay (France), hilft Margaret, den Weg zurück zur Musik zu finden. Dali Benssalah (Athena) wiederum spielt Hervé, den neuen Mann an Christinas Seite und offensichtliche Trophäe der in eine Krise geratenen Musikerin.

Komplexes Porträt einer toxischen Gemeinschaft

Die weiblichen Figuren sind dafür umso vielschichtiger. Wo am Anfang nur die pure Gewalt von Margaret gezeigt wird, kristallisiert sich mit der Zeit heraus, wie toxisch das Familienleben mit der selbstbezogenen Mutter aussieht. Damit wird das Verhalten der Tochter nicht entschuldigt. Es wird genau genommen nicht einmal ganz erklärt, weil die beiden anderen Schwestern, auch wenn sie unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen sind, doch recht unterschiedlich geworden sind. Während sich Louise ganz auf ihr kommendes Familienleben konzentriert und ansonsten keine größeren Pläne verfolgt, hat Marion die Liebe zur Musik geerbt. Sie ist aber im Gegensatz zu ihrer Mutter und der älteren Schwester kein konfrontativer Mensch. Vielmehr ist sie in Die Linie diejenige, die versucht, die einzelnen Fraktionen noch zusammenzuhalten und für Harmonie zu sorgen. Auffällig ist bei ihr zudem der starke Glauben, an dem sie mit der Unbeirrbarkeit einer Märtyrerin festhält.

Dass diese Leute nicht so ganz zusammenpassen, ist klar. Aber darin besteht eben auch die Spannung. Das Drama, welches 2022 im Wettbewerb der Berlinale feierte, lebt von der Dynamik der einzelnen Protagonistinnen. Das schwankt zwischen Kriegszustand und vorsichtiger Annäherung. Es kombiniert auch Tragik und Schock mit einer gelegentlichen Komik. Gerade Valeria Bruni Tedeschi, die völlig in ihrer Rolle der egozentrischen Mutter aufgeht, legt ihre Figur immer mal wieder komisch überzogen an. Allgemein ist das Ensemble hervorragend, das Zusammenspiel funktioniert sehr gut. Man sieht gebannt zu, wie sie sich gegenseitig belauern, mal angreifen, mal in den Arm nehmen, ohne dass man vorher immer wüsste, was als Nächstes geschieht. Damit verbunden sind versöhnliche Töne, ohne deshalb gleich zum Kitsch zu werden. Einfache Lösungen sind nicht unbedingt das Anliegen von Meier. Das wird nicht allen gefallen, aber wer gerne komplexe Familiengeschichten sieht, für den ist Die Linie ein Muss und wird zudem mit starken Bildern belohnt.

Credits

OT: „La ligne“
Land: Schweiz, Frankreich, Belgien
Jahr: 2022
Regie: Ursula Meier
Drehbuch: Stéphanie Blanchoud, Ursula Meier, Antoine Jaccoud
Musik: Jean-François Assy, Stéphanie Blanchoud, Benjamin Biolay
Kamera: Agnès Godard
Besetzung: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, Dali Benssalah, India Hair, Benjamin Biolay

Bilder

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Die Linie
fazit
Eine Frau schlägt ihre Mutter ins Krankenhaus und darf sich daraufhin nur noch auf 100 Metern nähern. „Die Linie“ schildert eine dysfunktionale Familie, die aus lauter Leuten besteht, die sehr ähnlich und doch grundverschieden sind. Das ist spannend, die Dynamik innerhalb der Figuren führt zu ständigen Wechseln. Es ist auch versöhnlich, ohne sich dabei auf Kitsch auszuruhen.
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