Music 2023
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Music 2023
„Music“ // Deutschland-Start: 4. Mai 2023 (Kino)

Inhalt / Kritik

Die Inhaltsangabe ist wohl das Nebensächlichste in einem Film von Angela Schanelec. Sie kann sogar zu Fehlinterpretationen führen. Trotzdem kommt man um sie nicht herum. Also: Ganz äußerlich betrachtet erzählt Music von Jon (Aliocha Schneider), der als Baby in den griechischen Bergen ausgesetzt wird. Er überlebt und wird von den Obst- und Gemüsebauern Merope (Marisha Triantafyllidou) und Elias (Argyris Xafis) großgezogen. Nach einem tragischen Todesfall muss Jon für ein Jahr ins Gefängnis, wo sich die Wärterin Iro (Agathe Bonitzer) in ihn verliebt und ihn in die Musik einführt, die ihm zum Trost in schweren Zeiten wird. Auch und gerade dann, als Iro den Freitod wählt und sich Jon, nunmehr Berufsmusiker, in Berlin ein neues Leben aufbaut.

Zauberhafte Bilder

Frei nach der Ödipus-Sage ist der Stoff gewebt, das muss man wissen, um sich im ebenso rätsel- wie zauberhaften Bilder-Labyrinth und dessen erzählerischen Leerstellen zurechtfinden zu können. Es kann auch nicht schaden, sich zu vergegenwärtigen, dass Angela Schanelecs Karriere als Theaterschauspielerin begann, wo sie unter anderem beim Regisseur Jürgen Gosch, ihrem späteren Lebenspartner, auf der Bühne stand. Die tragische Wucht griechischer Dramen ist ihr von daher ebenso vertraut wie das Bemühen des modernen Theaters, diesen uralten Stoffen etwas Heutiges abzugewinnen.

Es nutzt daher wenig, nach einer eins-zu-eins-Nacherzählung vom Schicksal des fluchbeladenen Ödipus zu suchen, der unwissentlich seinen leiblichen Vater tötete und ebenso unwissend seine Mutter heiratete und sich dann, als er die Wahrheit erfuhr, die Augen ausstach. Schanelecs Auseinandersetzung mit dem Schmerz, den tödliches Schicksal über uns Menschen bringen kann, hat nichts mit mythisch verklärten Sagengestalten zu tun, sondern mit handfesten, ganz normalen Personen. Und auch wenn sie die Tiefe des Kummers nicht leugnet, sondern das Ausmaß der Verzweiflung ins Off verbannt und es damit unserer Vorstellung überlässt, so löst sich die Regisseurin doch von der Vorstellung des Fluches, der über den griechischen Tragödien und ihren Figuren liegt. Ihr Ödipus, besser gesagt Jon, bleibt von der Wahrheit über die Todesfälle seiner leiblichen Eltern verschont. Zwar erblindet er langsam, gewinnt dadurch aber ein anderes und tieferes Verständnis von der Macht des Schicksals, nämlich eines, das die Realität verarbeitet und damit verwandelt in Kunst, in diesem Fall Musik.

Jeder Film von Angela Schanalec, so auch Music, spaltet Publikum und Kritik. Die einen ärgern sich über die strenge Stilisierung, die Unverständlichkeit und die oft sehr langen, statischen Einstellungen. Die anderen dagegen genießen genau diese meditative Ruhe in Schanelecs Arbeiten, das Erzählen fast nur über Bilder, die Gefühls- und Gedankenräume öffnen, aber sich nicht festnageln lassen auf ein Symbol oder eine Bedeutung. In seinem Titel enthält der neue Film nun erstmals auch einen Hinweis auf Schanelecs Art des Filmemachens. Denn eigentlich sind alle Filme der Berliner Regisseurin komponiert wie Musik. Niemand würde in ein klassisches Konzert gehen, um etwas erzählt zu bekommen, oder etwas mit dem Verstand zu „verstehen“.

Gedanken schweifen lassen

Wohl aber wird er sich diesem Kunsterleben aussetzen, um die Schönheit der Komposition zu genießen, sich emotional ergreifen und die Gedanken schweifen zu lassen. Genau dazu laden auch die streng komponierten Einstellungen ein, in denen kaum gesprochen wird, die Schauspieler minimalistisch agieren und die Gefühlsausbrüche ins Off verbannt sind. Wie bei der Musik ist es die Form, die Emotionen und Erkenntnisse freisetzt, nicht auf der Leinwand, sondern in Herz und Kopf der Zuschauenden.

Die Besonderheit von Music liegt dabei in der Leichtigkeit, mit der der Film das Leid der Menschen in tröstliche Kunst verwandelt. Niemand von uns ist davor gefeit, dass die Liebsten plötzlich durch einen Unfall aus dem Leben gerissen werden. Und niemand kann sich sicher sein, dass er nicht in Notwehr oder durch ein Missgeschick einen anderen tötet. Aber so wie Jon/Ödipus in seiner Musik das Schlimmste ins Schönste verwandelt, so feiert auch der Film die sinnliche Verzauberung und traumhafte Überhöhung, die sich aus einem Badetag am türkisblauen Meer oder einer Bootsfahrt über einen Berliner See mit filmischen Mitteln herausdestillieren lassen. Ein geglücktes Leben, scheint der Reigen sonnendurchfluteter Bilder sagen zu wollen, ist möglich, wenn man die (Film)Kunst in es hineinlässt. Zumindest kann man von einer solchen Versöhnung träumen.

Credits

OT: „Music“
Land: Deutschland, Frankreich, Griechenland, Serbien
Jahr: 2023
Regie: Angela Schanelec
Drehbuch: Angela Schanelec
Musik: Doug Tielli
Kamera: Ivan Marković
Besetzung: Aliocha Schneider, Agathe Bonitzer, Agyris Xafis, Marisha Triantafyllidou, Frida Tarana, Ninel Skrzypczyk, Miriam Jakob, Wolfgang Michael

Bilder

Trailer

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Music (2023)
fazit
„Music“ steckt wie jeder andere Film von Angela Schanelec voller Rätsel, die sich einem rationalen Zugriff entziehen. Aber so wie man Musik nicht mit dem Kopf, sondern mit den Ohren hört, kann man seine Schönheit genießen, wenn man sich auf das reine Sehen einlässt.
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