Michel Franco Interview
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Michel Franco [Interview]

In seinem neuesten Film Sundown – Geheimnisse in Acapulco nimmt uns der mexikanische Regisseur Michel Franco mit nach Acapulco, wo eine Familie ihren gemeinsamen Urlaub verbringt. Als die Mutter in der Heimat plötzlich verstirbt, reisen ihre Tochter Alice (Charlotte Gainsbourg) und die anderen sofort ab, um sich um die Beerdigung zu kümmern. Deren Bruder Neil (Tim Roth) will nachkommen, nachdem er seinen Pass vergessen hat. Dabei verfolgt er einen anderen Plan. Wir haben uns anlässlich des Kinostarts am 9. Juni 2022 mit dem Filmemacher über den Film, kapitalistische Ausbeute und filmische Realitätsflucht unterhalten.

 

Könntest du uns ein wenig über den Hintergrund des Films erzählen? Wie bist du auf die Idee für Sundown gekommen?

Ich fand es spannend, über einen Mann zu reden, der – ohne zu viel spoilern zu wollen – durch eine bestimmte Phase in seinem Leben geht und alles Bisherige hinterfragt. Außerdem wollte ich eine Geschichte erzählen, die in Acapulco spielt, das einerseits ein Paradies ist mit all einen Traumständen und dabei gleichzeitig ein Ort täglicher Gewalt. Ich wollte mit diesem Kontrast arbeiten zwischen seinem seelischen Zustand und dieser Umgebung. Die Ausgangssituation war, dass ein Mann bei seinem Familienurlaub bleibt und nicht zur Beerdigung seiner Mutter fährt. Und ich wollte sehen, wie weit ich dieses Szenario vorantreiben kann. Ich ging damals selbst durch eine persönliche Krise und die Geschichte war meine Art und Weise, mit dieser Krise fertig zu werden.

Wir erfahren später, dass die Familie einen Schlachtbetrieb führt und damit ihren Lebensunterhalt bestreitet. Warum hast du ausgerechnet diese Arbeit gewählt?

Ich wollte, dass die Familie vermögend ist und dass dieses Geld von einer Arbeit kommt, auf die man nicht unbedingt stolz sein muss. Dass Neil sich immer aus dem Unternehmen herausgehalten hat, hing sicher nicht nur, aber auch damit zusammen, dass es eine grausame Arbeit ist. Für mich ist es eine Art Karma, was mit der Familie geschieht.

Es heißt immer mal wieder, dass du andere ausnutzen musst, um reich werden zu können. Ein Schlachtbetrieb ist eine besonders heftige Form einer solchen Ausnutzung, wenn die Familie ihren Lebensunterhalt damit bestreitet, andere Lebewesen zu töten. Ist deiner Meinung nach eine Ausnutzung nötig, um an Geld zu kommen?

Das ist jetzt eine ziemlich große Frage. Aber es stimmt schon, das ist die Art und Weise, wie unsere Welt funktioniert, und ich tue mir schwer damit, dieser Aussage zu widersprechen – leider. Es gibt mit Sicherheit Ausnahmen, das hoffe ich zumindest. Aber oft bringt man es wohl wirklich nur zu etwas auf Kosten anderer. Und mit dieser Ausnutzung schaffst du lauter neue Probleme, wenn dies zu mehr Gewalt führt und die Menschen versuchen, nur für sich selbst zu sorgen, anstatt an die Gemeinschaft zu denken.

Ist das deiner Meinung nach eine grundsätzliche menschliche Eigenschaft, diese Ichbezogenheit?

Unsere Gesellschaft ist sehr viel primitiver, als sie es selbst wahrhaben will. Wir tun zwar immer so, als seien wir alle ganz zivilisiert. Aber im Zweifel ist diese Zivilisation sehr schnell weg.

Hat die Menschheit überhaupt Fortschritte gemacht oder sind wir immer noch die Tiere von früher?

Es gibt heute natürlich Regeln und Gesetze, mit denen wir das Zusammenleben organisieren. Das gab es früher nicht. Insofern gab es schon Fortschritte. Aber du musst dir nur unsere Welt anschauen, in der es noch immer Kriege gibt, um zu erkennen, welchen Wert diese Fortschritte haben. Aber es ist letztendlich immer eine individuelle Frage. Jeder Mensch ist frei sich zu entscheiden, was er tut und ob er diesem primitiven Drang nachgibt oder nicht. Insofern glaube ich an das Individuum und dass dieses sich weiterentwickeln kann. Bei der Gesellschaft als Gesamtheit bin ich eher skeptisch.

Neil versucht, das Unternehmen der Familie hinter sich zu lassen und damit das, wofür diese steht. Macht ihn das zu einem besseren Menschen? Man hat zwar schon den Eindruck, dass das eine Gewissensfrage ist. Aber ganz verabschiedet er sich ja nicht von dem Geld der Familie.

Er macht das mit der Loslösung von dem Unternehmen in erster Linie, um frei zu sein. Er will nicht weiter bestimmt sein von dem, was seine Familie tut, und will keine Erwartungen erfüllen müssen. Das Problem ist nur: Niemand von uns ist wirklich frei. Wir können gar nicht frei sein, solange wir mit anderen Menschen zu tun haben, weil die dich immer in irgendeiner Form bestimmen. Das fand ich auch spannend an seiner Geschichte, welche Konsequenzen seine Entscheidungen haben. Neil ist ein Mensch, der sich nie mit einem alltäglichen Leben befassen musste. Er hat nie gearbeitet, war immer losgelöst von allem. Er hat keine Kinder, die er versorgen musste. Wollte er auch nicht, die Ambition hatte er nie. Und doch verliebt er sich während des Films. Er ist also grundsätzlich schon in der Lage, eine Verbindung zu Menschen einzugehen. Er hat es nur nie wirklich getan.

Ist das bei ihm eine angeborene Eigenschaft oder die Folge davon, dass er durch seine Familiengeschichte nie wirklich Teil der normalen Welt sein musste?

Ich denke, dass es eine Kombination aus beidem ist. Vielleicht hätte es ihm gut getan, wenn er im Leben auch mal hätte kämpfen müssen. Oder wenigstens arbeiten. So aber lebte er immer in einer eigenen Welt, in der er keine Verbindungen eingehen musste.

Die Welt ist oft ein sehr düsterer Ort, in dem lauter schreckliche Dinge geschehen oder der manchmal auch einfach zu viel ist. Kannst du diesen Wunsch von ihm nachvollziehen, von allem wegzukommen und abzuschalten?

Ich liebe meine Arbeit zu sehr, um das so zu tun wie er. Selbst wenn ich gerade nichts mache, passiert in meinem Kopf sehr viel. Ich lebe geradezu in meinem Kopf und arbeite immer an meinem nächsten Film. Warum das so ist, weiß ich selbst nicht. Mein Geist funktioniert einfach so. Das mag zum Teil auch eine Flucht sein. Gleichzeitig beschäftige ich mich dabei aber immer auch mit der Welt da draußen und will mich filmisch mit ihr auseinandersetzen.

Es gibt aber auch Filme, die für das Publikum eine Flucht vor der Realität darstellen und einfach nur Unterhaltung sein wollen. Schaust du solche Filme?

Das hängt davon ab, in welcher Stimmung ich gerade bin. Wenn ein Film zu simpel ist, dann fühle ich mich dadurch nicht unterhalten. Ich schaue mir auch Komödien oder Liebesfilme an. Aber die müssen mir immer irgendetwas bieten, selbst wenn sie ganz albern sind. Sonst interessieren sie mich nicht.

Kannst du mir Beispiele geben für unterhaltsame Filme, die du selbst magst?

Monty Python zum Beispiel. Auch Woody Allen kann ich mir immer anschauen.

Könntest du dir vorstellen, selbst solche Filme zu drehen?

Ausschließen will ich es nicht. Aber letztendlich geht es nicht darum, welche Filme man drehen will, sondern welche man drehen kann. Ich bin, wer ich bin, und drehe die Filme, die ich drehen kann. Ich habe da keine Agenda, etwas anderes aus mir zu machen oder mich in eine bestimmte Richtung weiterzubewegen. Auch wenn ich natürlich hoffe, dass ich mich als Filmemacher noch weiterentwickeln werde.

Worin siehst du deine Aufgabe als Filmemacher allgemein?

Filme sind für mich eine Möglichkeit, eine Beziehung zu anderen Menschen und zur Gesellschaft aufzubauen. Aber auch um zu verstehen, wer ich selbst eigentlich bin und wie ich von dieser Welt beeinflusst werde.

Denkst du, dass Filme umgekehrt die Kraft haben, Menschen zu beeinflussen?

Auf individueller Ebene ja, so wie auch Bücher dich beeinflussen können. Sie können aber die Gesellschaft nicht verändern. Sie können auch keine Probleme lösen, die es in der Welt gibt. Sie können höchstens auf diese Probleme hinweisen und die Menschen dafür sensibilisieren.

Zumal du es überhaupt erst einmal schaffen musst, dass die Menschen deinen Film sehen. Deine Filme laufen zum Beispiel auf bedeutenden Filmfestivals. Aber das Publikum dort ist ja nicht repräsentativ für die Gesellschaft insgesamt.

Das stimmt. Aber das hast du als Filmemacher nicht wirklich in der Hand. Du kannst nur Filme machen und versuchen sie so gut zu machen wie möglich und dir dabei selbst treu bleiben. Wenn du irgendwann genug Filme gemacht hast, findest du vielleicht dein Publikum. Eine Garantie gibt es aber nicht. Es kann zwei, drei oder fünf Filme dauern, vielleicht länger. Vielleicht geschieht es auch nie.

Wir haben vorhin vom Thema Genre gesprochen. Welches Genre ist Sundown deiner Meinung nach? Irgendwie scheint jeder etwas anderes darin zu sehen.

Das kann schon sein. Um ehrlich zu sein, interessiert mich das aber nicht. Wenn ich an einem Film arbeite, denke ich nicht in Genrekategorien. Es ist mir auch egal, unter welchem Label der Film später verkauft wird. Für mich sind Genres oft eine Einschränkung, weil sie immer mit Regeln verbunden sind, die du einhalten musst. Und ich will mich lieber ausprobieren.

Neben der Genrezugehörigkeit wird in den Artikeln über deinen Film auch viel darüber diskutiert, was überhaupt das Thema ist, da du das nie wirklich ausformulierst.

Stimmt. Ich mag das aber auch nicht, wenn Filme dir vorgeben, was du zu denken hast. Ich finde das immer sehr herablassend dem Publikum gegenüber. Das Publikum soll für sich selbst Antworten finden, weil so auch das Leben funktioniert. Du solltest als Mensch schon irgendwann lernen, für dich selbst zu denken.

Und wenn die Leute das nicht annehmen? Heute hat man schnell den Eindruck, dass viele nur einfache Antworten wollen, die nicht länger als ein Post in den sozialen Medien sein dürfen.

Klar, die gibt es auch. Aber du siehst ja, was herauskommt, wenn die Leute nicht mehr denken wollen. Für mich ist das keine Option. Ich kann mich auch entspannend, wenn ich zum Beispiel ein Fußball anschaue. Da muss ich nicht denken. Aber das geht eben nur für ein paar Stunden. Danach musst du schon zurück in die Welt und die Realität. Du kannst der Erde nicht dauerhaft entkommen. Das wäre Selbstmord.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Michel Franco wurde am 28. August 1979 in Mexiko-Stadt, Mexiko geboren. Er drehte während seines Studiums erste Filme. Sein Spielfilmdebüt Daniel & Ana wurde 2009 in Cannes gezeigt. Drei Jahre später erhielt er dort für seinen zweiten Film Después de Lucía den Hauptpreis der Sektion Un Certain Regard. In seinen Filmen erzählt der Regisseur von dysfunktionalen Familien und gesellschaftlichen Verwerfungen, darunter auch im dystopischen New Order – Die neue Weltordnung, das 2020 im Wettbewerb von Vendig lief.



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