Nebesa Der Schein trügt
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Inhalt / Kritik

Der Schein truegt
„Der Schein trügt“ // Deutschland-Start: 16. Dezember 2021 (Kino) // 30. Juni 2022 (DVD)

Stojan (Goran Navojec) ist ein bescheidener, gutherziger Mann, der niemandem etwas Böses tun könnte. Dass er eines Tages  als Folge eines Unfalls einen Heiligenschein auf dem Kopf trägt, ist dann aber vielleicht doch ein wenig übertrieben. So sieht es zumindest seine Frau Nada (Ksenija Marinkovic), die von dem neuen Accessoire wenig hält. Da sich der Schein nicht ewig durch eine Mütze verstecken lässt, braucht es eine dauerhafte Lösung, wenn sie zu einem normalen Leben zurückkehren wollen. Nach einigen gescheiterten Versuchen, das Ding anderweitig loszuwerden, beschließt Nada, dass ihr Mann kräftig sündigen muss. Ob Völlerei oder Ehebruch, erlaubt ist alles, was ihnen dabei hilft, den Heiligenschein zu zerstören.  Das fällt Stojan zunächst schwer, widerspricht es doch völlig seinem Charakter. Doch nach einiger Zeit findet er Gefallen an diesem Leben und an seinem neuen Ich …

Was lange währt, wird endlich … seltsam

Es hat schon eine Weile gedauert, bis es wieder etwas Neues von Srdjan Dragojević gab. Der letzte Film des serbischen Regisseurs und Drehbuchautors war eine TV-Produktion aus dem Jahr 2015. Das letzte Werk, das bei uns veröffentlicht wurde, liegt sogar noch weiter zurück: Die Tragikomödie Parada, welche sich mit dem Thema LGBT-Rechte in Serbien befasst, stammt von 2011. Die lange Wartezeit hat sich aber gelohnt, denn mit Der Schein trügt beweist der Filmemacher, dass er nach seiner längeren Pause immer noch einiges zu sagen hat. Tatsächlich gehört sein ebenso bissiger wie eigenwilliger Genre-Mix zu den letzten Höhepunkten, die das nicht immer einfache Kinojahr 2021 für das hiesige Publikum bereithält.

Dabei darf man zunächst noch ein wenig skeptisch sein. Ein Mann, der auf einmal einen Heiligenschein trägt und diesen nicht wieder los wird? Das ist zwar ein recht ungewöhnliches Szenario, lässt dann aber doch mehr auf albernen Slapstick schließen – zumal der Trailer ebenfalls in diese Richtung geht. Doch dieser Eindruck ist trügerisch. Was als harmlose Farce mit peinlich-komischen Momenten beginnt, nimmt mit der Zeit immer dunklere Töne an. Mütze tragen und vergeblich-verzweifeltes Waschen des Kopfes machen den Sünden Platz, die Stojan zunächst widerwillig ansammelt. Und auch die eskalieren mit der Zeit kräftig. Der Schein trügt zeigt uns nicht nur immer mehr Exzesse der verschiedensten Sorten, sondern vor allem auch einen Mann, der sich mit diesen verändert. Aus dem braven, simplen Gutmenschen wird jemand, der sich an seiner eigenen Grausamkeit berauscht.

Wunder gibt es immer wieder

Doch das ist nur der Anfang. Genauer hat Dragojević hier nicht einen, sondern drei Filme gedreht. Die drei aufeinanderfolgenden Episoden sind dabei chronologisch geordnet. Außerdem gibt es wiederkehrende Figuren, vor allem Stojan, der in allen drei Geschichten auf taucht. Doch nur in der ersten ist er die Hauptfigur. Stattdessen wendet Der Schein trügt den Blick auf andere, die nicht minder seltsame Erfahrungen machen wie der vermeintliche Heilige. Diese haben miteinander nicht wirklich etwas zu tun, funktionieren jeweils völlig eigenständig. Gemeinsam ist ihnen aber, dass es in allen Fällen um eine Art Wunder geht. Wunder heißt hier auch tatsächlich, dass die Ereignisse ohne Erklärung bleiben. Sie kommen völlig aus dem Nichts, ohne dass hier jemals ein plausibler Hinweis erfolgt, was da geschehen ist. Wer darauf wartet, irgendwann vielleicht doch eine Auflösung zu sehen, der wird am Ende mindestens verwirrt, wenn nicht gar frustriert sein.

Um die eigentlichen Wunder geht es aber auch gar nicht, selbst wenn die so verblüffend sind, dass es sich allein dafür schon lohnen würde, sich den Film anzuschauen. Ein Publikum, das mal wieder überrascht werden möchte, sollte Der Schein trügt zumindest ins Auge fassen. Interessanter aber noch ist, wie die Figuren in dem Film auf die jeweiligen Wunder reagieren. Indem Dragojević diese mit Ausnahmesituationen konfrontiert, für die es keine Erfahrungswerte gibt, legt er Wahrheiten frei, die sonst vielleicht versteckt geblieben wären. Das Außergewöhnliche wird hier zum Spiegel des Alltags, vor dem viele keine besonders gute Figur abgeben. Gerade die Begegnung mit dem Göttlichen lässt einen an der Menschheit verzweifeln, die sich im Zweifel ganz besonders schäbig verhält, das aber anders zu verkaufen versucht.

Gesellschaftssatire mit Denkanstößen

Auch wenn der Film natürlich die Mittel der Fantastik verwendet und von übernatürlichen bis surrealen Situationen erzählt, das eigentliche Thema sind dann doch die ganz realen Menschen. Der Film, der beim Locarno Film Festival 2021 Premiere feierte, stellt sich als Gesellschaftssatire heraus, bei der niemand geschont wird. Tatsächlich werden vor allem Zuschauer und Zuschauerinnen auf ihre Kosten kommen, die einen beißenden, schwarzen Humor mögen. Gerade die mittlere Geschichte zeigt sich von einer absurden Bösartigkeit, wie man sie nur selten zu sehen bekommt. Darüber hinaus dient Der Schein trügt aber auch als Denkanstoß, der in die unterschiedlichsten Richtungen abzielt: Von konkreter Verhaltensweise bis zum philosophischen Dilemma ist in der vielschichtigen, zum Teil sehr tragischen Komödie alles drin. Selbst wenn man am Ende nicht alles verstanden hat, was in diesem Sammelsurium aus Kuriositäten vor sich gegangen ist, ist man doch deutlich bereichert von dieser etwas anderen Reise zurückgekehrt.

Credits

OT: „Nebesa“
IT: „Heavens Above“
Land: Serbien, Deutschland, Mazedonien, Slowenien, Kroatien, Montenegro, Bosnien
Jahr: 2021
Regie: Srdjan Dragojević
Drehbuch: Srdjan Dragojević
Musik: Aleksandar Randjelovic
Kamera: Dusan Joksimovic
Besetzung: Goran Navojec, Bojan Navojec, Ksenija Marinkovic, Danijela Mihajlovic, Natasa Markovic

Bilder

Trailer

Interview

Wer mehr über die Gedanken hinter Der Schein trügt erfahren möchte: Wir durften Regisseur und Drehbuchautor Srdjan Dragojević in unserem Interview zur Satire einige Fragen stellen.

Srdjan Dragojević [Interview]

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Der Schein trügt
Fazit
„Der Schein trügt“ erzählt, beginnend mit einem Mann, der plötzlich einen Heiligenschein hat, in drei aufeinanderfolgenden Geschichten von spontan auftretenden Wundern. Diese werden nicht erklärt, sind vielmehr Anlass, um der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Das ist vor allem für ein Publikum interessant, das sich gerne herausfordern lässt, aber auch an einem bösartigen Humor seine Freude hat.
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