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Active Vocabulary

„Active Vocabulary“ // Deutschland-Start: nicht angekündigt

Inhalt / Kritik

Eines der Hauptmerkmale einer menschenverachtenden Ideologie ist die Erkenntnis ihrer Vertreter, dass man in den Schulen ansetzen muss. Durch Normen wie den Beutelsbacher Konsens, der es Lehrkräften untersagt, ihre Schüler zu „überwältigen“ und ihnen die eigene politische Meinung aufzudrängen, sollen Kinder und junge Erwachsene selbstständig ihre Haltung bilden können. Natürlich bedeutet der Konsens nicht, dass Lehrkräfte nicht gegensteuern dürfen, wenn demokratiefeindliche Äußerungen oder Symbole geäußert werden. In der Theorie klingt das überzeugend, doch in einer politisch aufgeladenen Zeit wie der heutigen wird nahezu jede Äußerung auf die Goldwaage gelegt, während Populisten versuchen, Konzepte wie das Neutralitätsgebot für ihre Zwecke zu missbrauchen. Bei aktuellen Debatten – über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, das mögliche AfD-Verbotsverfahren oder den Gaza-Konflikt – wird nicht nur die gesellschaftliche Spaltung sichtbar, sondern auch, wie essenziell ein demokratischer Diskurs ist, wie ihn Bildungseinrichtungen pflegen sollen.

Als im Februar 2022 die russische Offensive in der Ukraine begann, reagierte das politische System unmittelbar. Neben Soldaten sollten bald auch Lehrkräfte in die annektierten Gebiete geschickt werden, um Schüler im Sinne der russischen Expansionspolitik ideologisch „einzuordnen“. Die dortigen Lehrkräfte hatten die Aufgabe, im Rahmen von Spezialstunden staatliche Propaganda zu verbreiten – jeder Widerstand wurde sofort unterdrückt. Von dem Schicksal einer Lehrerin, die sich verweigerte, erzählt die Dokumentation Active Vocabulary von Yulia Lokshinas (Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit), die auf dem DOK Leipzig zu sehen ist. Ihr Fokus reicht jedoch weiter: Am Beispiel des deutschen Schulsystems wird sichtbar, warum der Einsatz für demokratische Werte und ein Überwältigungsverbot so dringend notwendig ist. Außerdem richtet Lokshina den Blick nach Moskau, auf den Widerstand einer Gruppe Bürgerinnen gegen den Bau einer Schule in einem eigentlich unter Naturschutz stehenden Wald.

„Was denken sie über den Krieg?“

Die Lehrerin lebt inzwischen in Berlin-Moabit, doch die Erinnerungen an das Geschehen lassen sie nicht los. Ihre Schülerinnen und Schüler fragen sie nicht nur nach Grammatik, sondern auch nach der Denunziation, nach den Reaktionen der Dorfgemeinschaft und ob sie je zurück nach Russland möchte. Gemeinsam rekonstruieren sie Schlüsselmomente, die ihr Leben in ihrer Heimat unmöglich gemacht haben. Diese nachgestellten Szenen bilden das emotionale Zentrum von Active Vocabulary, denn sie zeigen die Atmosphäre aus Angst und Misstrauen, die sich in einem eigentlich geschützten Raum ausbreitete. Schüler werden zu Denunzianten, Kolleg:innen verweigern Solidarität, eine ganze Gemeinschaft kehrt sich ab. Und schließlich tauchen Stimmen auf, die behaupten, die Lehrerin und ihre Familie seien „nie wirklich dazugehörig“ gewesen. Innerhalb kürzester Zeit gelingt es dem autoritären Staat, Ressentiments und Vorurteile zu mobilisieren – und damit nicht nur einen Krieg zu rechtfertigen, sondern auch jede Gegenstimme zu ersticken.

Parallel dazu kehrt Lokshina immer wieder zu einer Baustelle in Moskau zurück. In einem Wald, der durch Stadterweiterung vereinnahmt wurde, soll eine Schule entstehen – und der Protest einer kleinen Gruppe von Frauen trifft auf Arbeiter, die einerseits abhängig vom Lohn sind und andererseits ihr eigenes moralisches Dilemma erkennen. 3D-Modelle verdeutlichen die Dimension dieses Eingriffs. Lokshina zieht eine Linie zwischen beiden Orten: In beiden Fällen treffen Überzeugung, Angst, ökonomische Abhängigkeit und ideologischer Druck aufeinander. Das Ergebnis: Die Demokratie bleibt auf der Strecke, Flucht wird notwendig – und das Trauma bleibt.

Credits

OT: „Active Vocabulary“
Land: Deutschland
Jahr: 2025
Regie: Yulia Lokshina
Drehbuch: Yulia Lokshina
Kamera: Nina Wesemann

Filmfeste

DOK Leipzig 2025

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Active Vocabulary
fazit
„Active Vocabulary“ ist ein wichtiger Film über Indoktrination, Propaganda und die Rolle von Bildungseinrichtungen im Schutz demokratischer Diskurse. Besonders stark ist die dokumentierte Erfahrung der Lehrerin, deren Geschichte zeigt, wie verletzlich demokratische Räume sind – und wie notwendig ein offener Austausch darüber bleibt.
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