
Herbst 1971: John Lennon und seine neue Frau Yoko Ono ziehen von London nach New York. In einem kleinen Zwei-Zimmer-Apartment lassen sie den Starrummel und die Tratschgeschichten um die Beatles hinter sich, um einen Neustart hinzulegen. Sie sehen viel fern, saugen so die Eindrücke der aufgewühlten US-Gesellschaft in sich auf. Die 18 Monate im Greenwich Village sind vielleicht die aktivistischste Phase des berühmten Paars. Aber auch privat ist es ein aufregender, prägender und intensiver Lebensabschnitt. Die beiden sind auch deshalb in die USA gekommen, weil sie Yokos kleine Tochter Kyoko suchen wollen, die von Yokos Ex-Ehemann entführt wurde. All die neuen Eindrücke finden Ausdruck in der Kunst. Lieder werden geschrieben, Ausstellungen geplant und Auftritte vorbereitet. Der berühmteste ist der, der am Ende der Entwicklungsperiode steht und Ausgangspunkt für den Film war: das Wohltätigkeitskonzert „One to One“ für die geistig behinderten Kinder der Einrichtung „Willowbrook“, die unter entsetzlichen Bedingungen vor sich hinvegetieren mussten. Der britische Dokumentarfilmer Kevin McDonald macht daraus keinen erwartbaren Konzertfilm und auch kein klassisches Biopic, sondern eine aufregende Collage über zwei Künstler, deren private Menschlichkeit hinter der öffentlichen Fassade fühlbar wird.
Fatale Parallelen zur Gegenwart
US-Präsident Richard Nixon kündigt in der TV-Übertragung eine „anständige“ Chorgruppe an: junge Männer und Frauen in adretten Kleidern und Anzügen, äußerlich brav bis in die Haarspitzen. Der mächtige, aber auch viel gehasste Politiker mag diesen Retro-Charme der 1950er, ein krasses Gegenbild zu den Beatles und all den anderen Hippie-Rockgruppen, die damals den Ton angaben. Und doch, selbst bei dieser streng bewachten Veranstaltung protestiert eine junge Sängerin gegen den Vietnam-Krieg: „Präsident Nixon, hören Sie auf, Menschen, Tiere und Pflanzen zu bombardieren“. Es sind unruhige Zeiten damals, das Land ist völlig zerrissen. Nixon und das FBI höhlen die Demokratie von innen aus, mit Methoden und Sprüchen, die fatal an heute erinnern. Yoko und John wollen dem nicht tatenlos zusehen, sondern ihren Ruhm zugunsten des Friedens nutzen. Sie mischen sich ein. Eine neue Jugendbewegung wollen sie lostreten, die Apathie nach dem Ende der „Flower-Power“-Aktionen in einen Neuanfang ummünzen. Schon der erste Protest zeigt Wirkung. Nach Johns Auftritt auf einer Kundgebung für den zu zehn Jahren Haft verurteilten Dichter John Sinclair kommt der Mann frei. Er hatte offiziell wegen zwei Joints im Gefängnis gesessen, inoffziell aber wegen seines politischen Engagements.
Dank bislang unveröffentlichter Mitschnitte von John und Yokos Telefonaten bekommen wir hautnahe Einblicke in die Gefühle und Gedanken jener Zeit. Filmemacher Kevin McDonald (Whitney, 2018, Marley, 2012) verstärkt die Intimität, indem er die Wohnung des Paars originalgetreu nachbauen ließ, mit allen Gitarren, Schallplatten, der Schreibmaschine und dem Bett der beiden, von dem sie auf einem großen Röhrenfernseher schauen konnten. Natürlich sind die Ausschnitte aus Talkshows, Nachrichten und Werbung nicht das, was John und Yoko konkret gesehen haben. Insgesamt hält sich der Film sehr zurück mit Einschätzungen über die Persönlichkeiten der beiden, Kommentare fehlen ganz, ebenso wie die beliebten „Experten“. Das Publikum soll sich selbst einen Reim machen auf das Puzzle, das der Film vor ihm ausbreitet, inklusive des Audio-Materials, das neben den Telefonaten aus Radio-Interviews besteht. One to One: John & Yoko hat einen ähnlichen Anspruch wie einer der Radiomoderatoren: dem Paar Raum zu geben, um ungefiltert über sich selbst sprechen zu können. Etwa über ihre Liebe zu New York, über den Schmerz des Verlustes von Kyoto, über den Schock, den die TV-Reportage über die gequälten Kinder von Willowbrook auslöst.
Die eigene Einschätzung von Filmemacher Kevin McDonald und seinem Schnittmeister und Co-Regisseur Sam Rice-Edwards kommt lediglich in der Auswahl und virtuosen Anordnung des heterogenen Materials zum Tragen. Das allerdings sehr prägnant und emotionalisierend. Während man eine Weile braucht, um sich auf die ungewöhnliche Machart des Films einzustellen, werden die ausgewählten Szenen nach und nach dichter und berührender. Das Regieteam findet ganz offensichtlich die privaten Entwicklungsschritte noch interessanter als das politische Engagement. So wird etwa Johns Song Mother länger ausgespielt als die anderen Lieder, und zwar hauptsächlich in Großaufnahme des Musikers, der hier seine schwierige Kindheit verarbeitet. Von Yoko geht besonders Don’t worry Kyoko ans Herz, ein einziger Aufschrei über den Verlust der Tochter. Musikalisch ganz anders, aber ebenso intim: Age 39, eine melancholische Reflexion über das Älterwerden mit seinen Wunden und Verlusten.
Sein letzter großer Auftritt
Die Rolle von Yoko in Johns Leben ist ein weiterer, nicht direkt ausgesprochener, aber im Material präsenter Aspekt des Films. Er zeigt sie weder als „Frau an seiner Seite“ noch als „Hexe“, die die Beatles auseinandergebracht hat. Sondern als gleichberechtigte Partnerin und Künstlerin: äußerlich sanft, innerlich stark. Und sehr eigenständig nicht nur in der gemeinsamen Musik, sondern auch als längst etablierte bildende Künstlerin und Vertreterin der „Fluxus“-Bewegung, für die der künstlerische Prozess wichtiger ist als das Resultat. Das führt auch zu humoristischen Einlagen, wie überhaupt die 18 Monate im Greenwich Village für das Paar kein bierernster Kampf für eine bessere Welt gewesen zu sein scheint, sondern eine lebensfrohe Zeit, die das Glück zu zweit wie selbstverständlich ins gesellschaftliche Engagement hinüberstrahlen lässt.
Die filmische Collage ist kein Konzertfilm (einen Mitschnitt gab es im US-Fernsehen bereits 1972 in der Regie von Steve Gebhardt), aber der letzte große Auftritt von John Lennon nach dem Aus der Beatles fungiert als emotionaler Ankerpunkt, zu dem die Montage in regelmäßigen Abständen zurückkehrt. Fast alle seine berühmten Songs sind hier zu hören, natürlich auch das unsterbliche Imagine. In seiner Einbettung ins persönliche und politische Leben zeigt der Film sehr schön, welche Erlebnisse den Musiker zu seinen Liedern inspiriert haben – und wie er das Erlebte darin auch transformiert und verarbeitet. So wird der Film letztlich auch zu einer Reflektion über das Verhältnis von Politik und Kunst. Und darüber, wie letztere, wenn sie gelingt, einen poetischen Überschuss erzeugt, der weit über bloße Agitation hinausgeht.
OT: „One to One: John & Yoko“
Land: UK
Jahr: 2024
Regie: Kevin Macdonald, Sam Rice-Edwards
Drehbuch: Clare Keogh
Musik: John Lennon, Yoko Ono, Sean Ono Lennon
Kamera: David Katznelson
Venedig 2024
Telluride Film Festival 2024
Zurich Film Festival 2024
Sundance Film Festival 2025
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