Ice Grave tombeau de glace
Ice Grave tombeau de glace
„Ice Grave“ // Deutschland-Start: nicht angekündigt

Inhalt / Kritik

1897 brachen die drei Männer Salomon August Andrée, Knut Frænkel und Nils Strindberg von Spitzbergen in einem Wasserstoffballon auf, um ein Ziel zu erreichen, an dem bisher kein Abenteurer ankam: den Nordpol. Erst 33 Jahre später fanden Robbenfänger die Überreste der Andrée Expedition in der Nähe der norwegischen Insel Kvitøya – und mit ihnen etliche von der Gruppe erstellte und mitgeführte Filme, Fotografien, Tagebücher und Notizen, die in einem außerordentlich guten Zustand waren. Der französische Regisseur Robin Hunzinger rekonstruiert nun all diese Teile zu einem essayistischen, experimentellen Dokumentarfilm, der seine Weltpremiere auf dem DOK.fest München 2025 feiert, und bindet dabei auch zeitgenössische Perspektiven ein, die nicht nur den Entdeckungs- und Kontrolldrang der Menschen, sondern auch die Auswirkungen des Klimawandels auf die vereiste arktische Umgebung untersuchen.

Weite Eiswelt, stolze Abenteurer

Stilistisch macht Ice Grave vieles richtig – da zum Großteil mit dem Archivmaterial der Andrée Expedition gearbeitet wird, ist es wichtig, die ganzen Bilder und Texte dynamisch erscheinen zu lassen und zu einer Geschichte zu verbinden. Dies schafft Hunzinger mithilfe von Zooms, Schwenks und Overlays von chronologischen Tagebucheinträgen, die bildgewaltig den Hergang der Erkundungsfahrt nachzeichnen; allein die Qualität und ästhetische Wertigkeit der weitläufigen Eismasse, auf die die drei Männer stießen, ist positiverweise erstaunlich und öffnet ein Portal in eine andere, frühere Zeit, in der weiße Männer noch stolz darauf sein durften, die „Welt zu erobern“ und Eisbären zu erlegen, ohne soziale Repressionen fürchten zu müssen. Die rhythmische Abfolge des Materials sowie der reduzierte Ton, der hauptsächlich Overvoice, Wind, Hämmern, Atmen und dissonante Synths verbindet und auch mal der Stille Raum gibt, erzeugt ein meditativ-bedrückendes Gesamterlebnis.

Bedrückender wird der eh schon tragische Hergang der Expedition durch den Vergleich mit der Jetztzeit: Hunzinger bringt Tyrone Martinson, einen schwedischen Fotografiehistoriker, und Hélène Gaudy, eine französische Autorin, vor die Linse und damit an die Originalschauplätze, an denen auch die drei Männer unterwegs waren. Die beiden sind nicht zufällig dort: Martinson erforscht den Klimawandel, während Gaudy ein Buch über die Erinnerungen von Andrée und seinen beiden Mitstreitern, die in die Gegenwart übertragen werden, schreiben möchte. Während sie durch die Landschaft schreiten wird deutlich, wie viel sich seit 1897 verändert hat, teils sogar durch direktes Übereinanderlegen der Bilder: Das Eis ist drastisch geschmolzen; wo einst riesiger Gletscher und Eismassen waren, ist nun spärliches Gras und viel Geröll.

Appell an Naturschutz

Auch wenn Ice Grave mit 78 Minuten nicht die längste Laufzeit besitzt und sich Hunzinger große Mühe gibt, die gefundenen Artefakte so spannend wie möglich zu präsentieren, schleichen sich gerade im Mittelteil einige Längen ein, die ein bisschen „mehr“ vermissen lassen. Die Idee, die Expedition, in der die „Eroberer“ ihre perzipierte Unbesiegbarkeit präsentieren wollen, die Reise gar zum Siegeszug des Menschen über die Natur stilisieren, mit dem derzeitigen Raubbau an der Umwelt zu kontrastieren, ist wunderbar und schreibt sich quasi von selbst. Dennoch will die finnisch-französisch-schwedische Produktion vor allem die Geschichte der drei Männer mit all ihren Details erzählen, was ebenso kein Kritikpunkt sein soll – der Fund ist phänomenal und bietet einen umfassenden Blick auf frühe Polarexpeditionen; die Fotos und Videos verdienen es, einem größeren Publikum gezeigt zu werden, da sie von unfassbarem Wert sind, sowohl biologisch-geographisch als auch (medien-)historisch. Der Appell an die Dringlichkeit des Naturschutzes, der desolate Zustand der arktischen Umwelt, selbst die Gefährdung der Eisbären, hätten jedoch eindringlicher präsentiert werden können.

Credits

OT: „Ice Grave“
Land: Finnland, Frankreich, Schweden
Jahr: 2025
Regie: Robin Hunzinger
Drehbuch: Robin Hunzinger
Musik: Bendik Giske
Kamera: Erik Nicolai Heim

Bilder

Filmfeste

DOK.fest München 2025

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Ice Grave
fazit
„Ice Grave“ ist eine kinematographisch gelungene essayistische Rekonstruktion der gescheiterten Andrée Expedition und bietet atemberaubende historische Bilder aus einer Zeit, in der der Mensch dachte, er hätte die Welt erobert. Die wichtige Transferleistung zum Hier und Jetzt funktioniert leider nur bedingt, da diese einen umfassenderen Fokus verdient hätte.
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