Aftersun MUBI
© Sarah Makharine

Aftersun

Aftersun MUBI
„Aftersun“ // Deutschland-Start: 15. Dezember 2022 (MUBI) // 14. Dezember 2023 (DVD / Blu-ray)

Inhalt / Kritik

Die 31-Jährige Sophie (Celia Rowlson-Hall) findet ein Video aus ihrer Kindheit. Es zeigt einen Urlaub, den sie (als elfjährige: Frankie Corio) mit ihrem Vater Calum (Paul Mescal) an der türkischen Mittelmeerküste verbrachte. Damals hatten sich die Eltern gerade getrennt, der Vater hatte das schottische Edinburgh verlassen und war nach London gezogen, während Sophie mit ihrer Mutter in Schottland blieb. Der Urlaub sollte eine unvergessliche Zeit werden, bevor die Schule wieder beginnt und der Vater weit weg sein wird. Die erwachsene Frau erinnert sich. Sie beginnt Bruchstücke zusammenzusetzen und auf der Leinwand kommt, wie bei einer klassischen Rahmenerzählung, die damalige Reise ins Rollen.

Fallstricke der Erinnerung

Das sehenswerte Debüt der Schottin Charlotte Wells variiert das Vater-Tochter-Thema, wie es etwa Sofia Coppola in Somewhere (2010) verhandelte, in einer eigenständigen Handschrift, die sowohl die Form als auch den Inhalt betrifft. Inhaltlich geht sie über das bloße Coming-of-Age hinaus, indem sie zugleich über das Wesen und die Fallstricke der Erinnerung nachdenkt. War es damals objektiv so? Oder legt man in alte Fotos und Home-Videos etwas hinein, was man erst später erfuhr? Formal fasziniert das Beziehungsdrama durch die eigenwillige Verschränkung der Zeitebenen sowie durch den ständigen Wechsel zu ungewöhnlichen Kamerawinkeln, die die „normale“ Bildsprache durchlöchern.

Die Erzählperspektive wechselt also nach den anfänglichen Videofunden zur Wahrnehmung des Kindes, das damals eine kumpelhafte und innige Bindung zum Vater hatte. Aber anders als in der klassischen Rückblende behält der Film auch den Standpunkt der erwachsenen Erzählerin bei, repräsentiert durch Bilder einer tanzenden jungen Frau in der Disko, ins Flackerlicht getaucht durch Stroboskop-Blitze. Das Abgehackte und Fragmentarische ist Programm. Die ältere Sophie muss sich die Geschichte ebenso aus Teilen rekonstruieren wie das Publikum aufgefordert ist, sich aus Episoden-Fetzen ein eigenes Puzzle zusammenzufügen.

Einerseits begeistert Aftersun durch die Intensität, mit der sich die Regisseurin (Jahrgang 1987) in eine Elfjährige hineinversetzt. Also in ein Alter, in dem man die Eltern anders zu sehen beginnt als zuvor, nicht mehr als unhinterfragte Helden, sondern als Menschen mit Ecken und Kanten, mit Besonderheiten, die auch peinlich sein können. In einer langen und einfühlsamen Einstellung etwa zeigt die Kamera den Vater von hinten auf dem Balkon, rauchend. Elegant bewegt er sich hin und her, als würde er Musik hören, hebt dann sanft den Arm und geht in ein Thai-Chi-artiges Gleiten über. Zwar schläft die Tochter in diesem Moment. Aber die meditative chinesische Praktik, die der Vater auch sonst ausübt, irritiert das Mädchen zutiefst. Warum ist er so? Kann er nicht so „normal“ sein wie andere Väter?

Autobiografische Anteile

Sophie nimmt die Eigenheiten, auch die immer wieder durchbrechende Traurigkeit des Vaters, nicht einfach so hin. Sie möchte hinter die Geheimnisse kommen, die Calum vor ihr verbirgt, und stellt Fragen, die keine Kinderfragen mehr sind. Dass sie das so authentisch tut, hat nicht nur mit dem bezaubernden Spiel von Frankie Corio zu tun, sondern auch mit dem autobiografischen Anteil der Geschichte. Die Regisseurin stellt auf der Leinwand zwar nicht ihr junges Selbst und auch nicht ihren Vater dar, aber sie hat sich intensiv mit eigenen Erinnerungen befasst, hat eigene Urlaubsfotos und Videos auf sich wirken lassen. Vieles von dem floss in die Fiktion ein.

Das zweite Faszinosum des Films ist die Reflexion über den jungen Mann, der mit 20 Vater wurde und in den folgenden zehn Jahren sein Leben nicht in den Griff kriegte. Einerseits merkt man dem sehr physischen Spiel von Paul Mescal an, wie sehr er seine Tochter liebt und wie sehr er in der Vaterrolle bleiben möchte. Seine eigenen Probleme sollen die Elfjährige nicht belasten, sie soll sich auf ihn verlassen können, auf sein sonniges Gemüt, seine noch jungenhafte Kraft und auf die seelische Stabilität, die die Vaterrolle von ihm verlangt. Andererseits arbeitet der Film in einer sehr persönlichen und zugleich universellen Weise heraus, dass Eltern quasi zwei Leben haben: das, was sie für ihre Kinder darstellen, ohne dass es bloß eine Rolle ist, und zugleich das innere Selbst und dessen Probleme, die sie mit sich selbst abmachen. Der Film findet dafür schöne Bilder. Etwa das wiederkehrende Motiv der Gleitschirmflieger, die über dem Feriendomizil kreisen – ein Sinnbild für die Sehnsucht, allen irdischen Sorgen und Krisen für einen Moment zu entkommen.

Credits

OT: „Aftersun“
Land: UK, USA
Jahr: 2022
Regie: Charlotte Wells
Drehbuch: Charlotte Wells
Musik: Oliver Coates
Kamera: Gregory Oke
Besetzung: Paul Mescal, Frankie Corio, Celia Rowlson-Hall

Bilder

Trailer

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Aftersun
fazit
„Aftersun“ ist nicht nur eine Vater-Tochter-Geschichte, sondern auch eine Reflexion über das Mysterium des Erinnerns. Regisseurin Charlotte Wells schlägt in ihrem überraschend reifen Debüt zwei Tonarten gleichzeitig an, das Dur einer sommerlichen Seligkeit und das Moll einer tiefen Angst vor dem Versagen, dem Kind gegenüber und den Anforderungen des Lebens insgesamt.
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8
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