Vatersland
© W-Film

Vatersland

Vatersland
„Vatersland“ // Deutschland-Start: 10. März 2022 (Kino)

Inhalt / Kritik

Marie (Margarita Broich) ist Filmemacherin und für den Geschmack ihrer Tochter derzeit zu oft zu Hause. „Schreib’ doch mal ein neues Drehbuch“, rät Partner Michael (Eric Langner) diplomatisch. Aber Marie fällt nichts ein. Bis ihr eines Tages eine große Holzkiste ins Haus geschickt wird. Es sind die Schätze ihres Vaters, der als Fotograf gearbeitet hat: Kameras, Fotos, 16-mm-Filmrollen – quasi Maries Kindheit und Jugend auf Zelluloid gebannt. Die Regisseurin nimmt die Kiste mit in ihr Studio und versenkt sich in das Material. Erinnerungen steigen hoch, lange Verdrängtes meldet sich zurück. Und vor den Augen der Zuschauer entfaltet sich ein Panorama, das einerseits ganz persönlich ist und zugleich universell, zumindest für Menschen, die in den 1950er und 1960er Jahren aufgewachsen sind. Mehr noch: Marie schreibt die Geschichte ihrer Familie um, indem sie einen weiblichen Blick darauf wirft und sie sich aneignet. Das wiederum ist für Frauen aller Generationen interessant.

Papa am Herd

Zu den lustigsten Erinnerungen gehört die, als Vater (Bernhard Schütz) zum ersten Mal kochte. Der Fotograf, der wie alle Väter der 1950er und 1960er seine Frau am liebsten am Herd sah, serviert seinem Sohn Wolfgang (Matti-Schmidt-Schaller) und seiner Tochter Marie (als Acht- bis Zehnjährige gespielt von Felizia Trube) eine angeblich französische Spezialität, ganz frisch vom Metzger, angerichtet in einer Art von schwer angesagtem Purismus, nämlich mit nullkommanichts. Keine Soße, keine Beilage, kein Gewürz. Einfach nur Schweinsohren, die eine Weile im Wasser gekocht haben. Iiih, entfährt es dem Sohn und die Tochter schüttelt sich vor Schaudern. Ein Glück, dass genau in dem Moment der Nachbar klingelt und man die ekligen Lappen schnell verschwinden lassen kann, unter Vorgaukelung der falschen Tatsache, sie hätten wunderbar geschmeckt.

Es ist ein Leben in vielen Farben. Komik und Tragik liegen eng beieinander. Denn der Grund für die Bekanntschaft mit den Schweinsohren ist der frühe Krebstod der Mutter (in den Rückblenden ebenfalls von Margarita Broich gespielt). Marie war da gerade einmal zehn, so alt wie ihre Tochter heute. Nicht nur der Vater war damals unfähig zu trauern, auch Marie hat diese Zeit bis heute nicht wirklich verdaut. Das ist auch der Grund, warum jetzt alles wieder hochkommt und Marie in einer Art filmischem Therapieprozess ihrem inneren Kind und der inneren jungen Frau aufs Neue begegnet, verkörpert von drei verschiedenen Schauspielerinnen, neben der genannten Felizia Trube (acht bis zehn Jahre) noch Momo Beier (zehn bis 14 Jahre) und Stella Holzapfel (14 bis 18 Jahre). In keinem dieser Lebensabschnitte war es einfach. Marie musste entweder mit dem überforderten, auf ein reaktionäres Frauenbild fixierten Vater klarkommen. Oder sie wurde zu den Großeltern beziehungsweise ins Internat abgeschoben.

It‘s a Man’s World

Man könnte denken, Marie sei zu hundert Prozent identisch mit Regisseurin und Autorin Petra Seeger, die hier ihr eigenes Leben (und das ihrer Generation) erinnert. Aber es ist komplexer, wie eine Schrifttafel gleich zu Beginn erläutert, die den französischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Claude Simon zitiert: „Alles ist autobiografisch, auch das Erfundene“. Es mag also sein, dass der von Bernhard Schütz gespielte Vater nicht eins zu eins Petra Seegers eigenen Vater verkörpert. Zumal die Regisseurin im Presseheft darauf besteht, dass es sich bei Vatersland um einen Spielfilm handele. Und zudem schreibt, es gehe nicht um Anklage, auch wenn der Mann seine Kinder mit militärischer Disziplin erziehen will. Jedenfalls weiß er es zeitbedingt nicht anders. Und bietet sich damit zur Identifikation mit dem eigenen Vater der Zuschauerin und des Zuschauers an. Schließlich geht es nicht nur darum, dass diesen Vätern der Krieg und ihre Schuld im Nazi-Regime lebenslang in den Kleidern steckten. Sondern dass sich dies auch auf ihre Töchter und Söhne auswirkte.

Nicht die Frage der Authentizität ist entscheidend und auch nicht die Virtuosität, mit der die Montage Doku-Material ihrer eigenen Familie mit Spielszenen verschmilzt. Der Clou des Films ist ein anderer: Indem sich Petra Seeger sowohl ihres Vaterlandes wie der „Man’s World“ ihres Vaters vergewissert, sieht sie das Land und die Schicksale der Frauen aus einer berührenden und viel zu seltenen Perspektive: der der Frauen. „Das ist nichts für Mädchen“, hatte der Vater gesagt, als sie seine Kamera anfassen wollte. „Mädchen gehören vor die Kamera“. Sie hat sich nicht daran gehalten. Und der erste Spielfilm nach einer langen Karriere als Dokumentarfilmerin (Auf der Suche nach dem Gedächtnis, 2009) bestätigt aufs Schönste, wie wichtig es ist, wenn Frauen ihre eigene Sicht der Dinge schildern.

Credits

OT: „Vatersland“
Land: Deutschland, Luxemburg
Jahr: 2019
Regie: Petra Seeger
Drehbuch: Petra Seeger
Musik: Dietmar Bonnen
Kamera: Hajo Schomerus
Besetzung: Margarita Broich, Felizia Trube, Momo Beier, Stella Holzapfel, Bernhard Schütz, Matti Schmidt-Schaller

Bilder

Trailer

Interview

Wer mehr über den Film und die Arbeit daran erfahren möchte: Wir haben uns im Interview mit Regisseurin Petra Seeger über ihr bislang persönlichstes Werk Vatersland unterhalten.

Petra Seeger [Interview]



(Anzeige)

Vatersland
Fazit
Zu Beginn lässt sich die Geschichte viel Zeit für das individuelle Schicksal eines viel zu frühen Verlusts der Mutter. Aber nach und nach schält sich das Universelle umso schöner heraus: die verdrängten Traumata in der Kindheit von uns allen, die nur dann weniger belasten, wenn wir uns ihnen stellen.
Leserwertung71 Bewertungen
4.2
8
von 10