Alice and the Mayor Alice et le maire
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Alice oder Die Bescheidenheit

Kritik

Alice and the Mayor Alice et le maire
„Alice oder Die Bescheidenheit“ // Deutschland-Start: 7. Juli 2021 (MUBI) // 27. April 2022 (arte)

Seit 30 Jahren ist Paul Théraneau (Fabrice Luchini) inzwischen schon Bürgermeister von Lyon, hat viel in der Zeit verändert und beeinflusst. Doch irgendwie will es zuletzt nicht mehr wirklich laufen. Es fehlen ihm die Ideen für seine Stadt, eine Vision, wie er die Zukunft neu gestalten könnte. Und eben die soll ihm nun Alice Heimann (Anaïs Demoustier) liefern. Die hat zwar keine Ahnung von Politik oder sonstige Erfahrungen, die in dem Bereich hilfreich sein könnten. Dafür erhofft man sich, dass ihr philosophischer Hintergrund für neue Impulse sorgt und ihr eigener Zugang zu den Themen ein Ende der ideologischen Sackgasse bedeutet. Aber nicht jeder ist erfreut über die Veränderungen, welche die junge Frau da anstößt …

In den letzten Jahren war weltweit ein Phänomen in der politischen Landschaft zu beobachten: Erfolge feierten vor allem solche Leute, die es schafften, sich als Außenseiter zu präsentieren, als jemand, der mit dem politischen Betrieb nichts zu tun hat. Dass in Folge Kandidaten und Kandidatinnen gewählt werden, die mindestens ebenso weit entfernt sind vom der Bevölkerung, Milliardäre sich als Mann von der Straße inszenieren und gegen die Interessen der Wähler und Wählerinnen handeln, ist natürlich absurd. Und doch zeigt es eine Sehnsucht danach, die distanzierten Eliten abzuschaffen, in der Hoffnung, selbst wieder an Relevanz zu gewinnen.

Die Philosophie des Fremden

Die Idee, jemand Fachfremdes zur Beratung hinzuziehen, der einen völlig neuen Blickwinkel mitbringt, die ist da natürlich reizvoll. Ungewöhnlich bei Alice and the Mayor bzw. Alice oder Die Bescheidenheit ist dabei jedoch, dass mit Alice eben niemand ist, der direkt aus dem Volk entstammt. Sie hat an einer Eliteuniversität studiert, die Fächer Literatur und Philosophie stehen auch nicht unbedingt in dem Ruf, besonders bodenständig zu sein. Wo solche Culture-Clash-Elemente also meistens damit spielen, dass eine Seite abgehoben, die andere „echt“ ist, da ist das hier nicht so einfach zu unterscheiden. Vielmehr treffen zwei Welten aufeinander, die zwar nicht komplett gegensätzlich sind, aber auch nicht wirklich zusammenpassen.

Der Spaß bei Alice and the Mayor liegt dann auch darin, wie ein Mensch in einem für ihn völlig fremden Umfeld zu überstehen versucht. Wobei dieser Fish-out-of-Water-Humor weniger auf krachende Gags setzt, peinliche Missverständnisse oder Konfrontationen. Regisseur und Drehbuchautor Nicolas Pariser mag es etwas leiser und zieht eine Atmosphäre der Fremdartigkeit vor: Alice wirkt immer etwas fehl am Platz, soll sich aber dennoch zu allem äußern, was irgendwie ansteht. Anaïs Demoustier (The Girl with a Bracelet), die hierfür einen César als beste Hauptdarstellerin erhalten hat, schwankt dabei zwischen Kompetenz und Unschuld, zwischen Vision und Hilflosigkeit.

Wo bin ich hier?

Pariser verstärkt diesen Eindruck noch durch das hohe Tempo, das sein Film an den Tag legt. Als eine Art Running Gag ist Alice andauernd unterwegs, wird alle paar Schritte von jemand anderem angesprochen oder in ein Zimmer gezerrt, wo sie spontan etwas tun soll, bevor es weiter zum nächsten Termin geht. Das bedeutet viel Stoff, aber wenig Tiefgang, sowohl für sie selbst wie auch das Publikum. In Alice and the Mayor passiert eigentlich dauernd etwas, weshalb man kaum Zeit zum Luftholen bekommt. Und doch passiert irgendwie nichts. Der Film zeigt eine Politik, die ständig am Rotieren ist, dabei aber kaum vom Fleck kommt, weil sie irgendwie selbst nicht weiß, was relevant ist.

Daraus hätte man leicht eine Politsatire machen können. Am Ende ist Alice and the Mayor, das bei der Directors’ Fortnight von Cannes 2019 Premiere hatte, eine eher gefällige Tragikomödie geworden. Aber es ist eine unterhaltsame Tragikomödie, die von dem Zwischenspiel der beiden unterschiedlichen Hauptfiguren lebt, die beide irgendwie ziellos umherschippern. Und auch wenn Pariser am Ende die notwendigen Antworten schuldig bleibt, so ist sein Film doch immerhin Inspiration, aus alten Denkmustern auszubrechen, die Welt vielleicht mal wieder von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten und dabei sich selbst zu fragen, was genau wir eigentlich von der Politik erwarten.

Credits

OT: „Alice et le maire“
Land: Frankreich
Jahr: 2019
Regie: Nicolas Pariser
Drehbuch: Nicolas Pariser
Musik: Benjamin Esdraffo
Kamera: Sébastien Buchmann
Besetzung: Fabrice Luchini, Anaïs Demoustier, Nora Hamzawi, Léonie Simaga, Antoine Reinartz, Maud Wyler, Alexandre Steiger, Pascal Rénéric

Bilder

Trailer

Filmpreise

Preis Jahr Kategorie Ergebnis
César 2020 Beste Hauptdarstellerin Anaïs Demoustier Sieg
Prix Lumières 2020 Bestes Drehbuch Nicolas Pariser Nominierung
Bester Hauptdarsteller Fabrice Luchini Nominierung
Beste Hauptdarstellerin Anaïs Demoustier Nominierung

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In „Alice and the Mayor“ sucht ein erfahrener, aber ausgebrannter Bürgermeister neue Impulse durch eine junge Philosophiestudentin. Der Film ist nicht die zu erwartende Satire, sondern eine Tragikomödie über zwei grundverschiedene Menschen, die Suche nach dem richtigen Weg und die Ermunterung, sich von festgefahrenen Denkmustern zu lösen.
7
von 10