La montana Interview

Diego Enrique Osorno / Vivi Gonzalez [Interview]

In seiner Heimat Mexiko gehört Diego Enrique Osorno zu einem Kreis von Journalisten und Kulturschaffenden, der sich traut, systemkritisch aufzutreten und sich entsprechend zu äußern. Neben einer Tätigkeit als Reporter für unterschiedliche Publikationen ist er zudem Buchautor, Drehbuchschreiber und Dokumentarfilmer, wobei er sich in erster Linie mit politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Themen befassen, welche schon längst nicht mehr nur sein Herkunftsland im Fokus haben. Für seine Dokumentationen, unter anderem El alcade, La muñeca tetona und El valiente ve la muerte sólo una vez, wurde er mit zahlreichen Preisen geehrte, unter anderem den Preis für die Beste Dokumentation bei dem Baja International Film Festival 2012 sowie dem Cartagena Film Festival 2013 (beide Male für El alcade).

Auf dem Internationalen Film Festival Rotterdam 2023 stellte Osorno seinen neuen Film La montaña vor. Die Dokumentation begleitet eine Gruppe Zapatisten, eine mexikanische Widerstandsbewegung, auf einer Schifffahrt nach Portugal, zur Erinnerung an die Kolonisierung ihrer Heimat durch europäische Mächte. Neben den Themen, die Osorno bereits sein ganzes Werk lang begleiten, sind es vor allem Fragen nach dem Leben in der Moderne im Kontext globaler Herausforderungen, sowie die Diskussion, ob der Mensch diesen Prüfungen gewachsen ist.

Im Interview sprechen Diego Enrique Osorno und die Produzentin seiner Films Vivi Gonzalez über ihre Hoffnungen für die Zukunft, über die Narrative einer Kultur und warum es wichtig ist, das Gemeinsame zu suchen und nicht das, was uns trennt.

In einem Artikel vom 11. Januar 2023 für Milenio schreiben Sie, dass es schwierig sei, bei dem „Lärm der Moderne“ noch irgendetwas zu hören. Wie meinen Sie das, Herr Osorno, und inwiefern findet sich ein solcher Satz in den Bildern von La montaña wieder?

Diego Enrique Osorno: Den Artikel schrieb ich als eine Reflektion meiner Erfahrungen während der Schifffahrt. Es erschien mir wichtig, einen Moment innezuhalten und über das nachzudenken, was eigentlich in den letzten Wochen passiert war und wie ich mich verändert habe. Das Zitat, auf das Sie anspielen, findet sich in den letzten Minuten des Filmes wieder, wenn davon die Rede ist, dass man sein Handy beiseite legen und über den Bildschirm seines Laptops hinwegsehen solle. Man soll für einen Moment all diesen „Lärm“ vergessen und einen Blick auf sich selbst und die Welt werfen.

Als ich mich mit Zapatismus anfing zu beschäftigen, wurde dies zu einer Inspiration und einer Motivation, mich mehr mit der Welt um mich zu befassen. Es ging mir nicht mehr nur darum, sie zu kommentieren, wie ich es schon oft getan habe, sondern eben auch Wege zu finden, wie man sie ändern kann. Die Frauen und Männer, die wir in La montaña sehen, beschlossen, sich auf diese beschwerliche Reise zu machen, um Europäer über ihre Erfahrungen im Widerstand zu informieren sowie die Verbindungen der heutigen Situation in Mexiko mit der Geschichte des Kolonialismus. Dabei ging es nicht um Protest oder um eine Art Missionierung, sondern vielmehr um einen Austausch. Wir brauchen mehr solcher Ideen und Initiativen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Spielfilmen und Dokumentationen, die einen sehr pessimistischen Blick in die Zukunft haben, trauen Sie beide sich in La montaña eine zuversichtliche, hoffnungsvolle Tonart. Welchen Moment während der Dreharbeiten haben Sie beide als besonders hoffnungsvoll in Erinnerung?

Vivi Gonzalez: Der Moment ist im Film, und zwar am Ende. Jemand sagt, dass es nicht darum gehe, in Europa nach neuen Anhängern für den Zapatismus zu suchen. Es geht vielmehr darum, jetzt und nicht erst morgen eine Form des Widerstands zu organisieren, da es so, wie es jetzt ist, nicht weitergehen kann. Widerstand heißt auch, eine neue Sichtweise auf die Welt zu finden und eine andere Form des Lebens auf diesem Planeten zu wagen, was wir beide, Diego und ich, als sehr zuversichtlich empfinden.

Diego Enrique Osorno: Mir gefallen die ersten Minuten sehr, weil wir diesen Perspektivwechsel ästhetisch nachempfinden. Während wir zunächst eine Sicht haben, die dem Filmen mittels eines Handys nachempfunden ist, wechseln wir zu einer eher traditionellen Kamera. Die Kamera wie auch der Zuschauer blicken auf den Ozean, auf die Weite und damit auf die Welt, welche nicht mehr länger in der vertikalen Perspektive eines Mobiltelefons eingesperrt ist.

In La montaña aber auch in ihrem letzten Buch Mundo Enfermo beschreiben Sie, Herr Osorno, inwiefern hässliche, provokative oder gar verstörende Aspekte einer Kultur eine Wahrheit über diese aussprechen. Welche Wahrheit könnte das sein?

Diego Enrique Osorno: Das ist eine gute Frage, aber ich weiß leider keine befriedigende Antwort darauf. In meinem Buch und in der Dokumentation geht es darum, dass der kollektive Narzissmus, den wir beispielsweise in den sozialen Medien wiederfinden, uns den Blick auf das Menschliche versperrt. Wir sehen das Profil, nicht aber die Person dahinter, und oftmals konzentrieren wir uns auf das Andere als etwas, das wir negativ hervorheben müssen. In der heutigen Welt und im Kontext der aktuellen Herausforderungen müssen wir lernen, diese Differenzen zu akzeptieren. Wenn Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit völlig anderer Hautfarbe und sexueller Orientierung es schaffen, zusammenzuarbeiten und eine Segelschifffahrt durchzustehen, sollte das doch ein gutes Beispiel sein, dass dies auch in einem größeren Kontext funktionieren kann.

Inwiefern ist La montaña ein Beispiel für ein Kino, das mit Wut im Bauch und viel Leidenschaft gemacht wird, so wie Sie es in Ihren Ausführungen zu den Filmen von Alejandro González Iñárritu beschreiben, Herr Osorno?

Diego Enrique Osorno: Bei einer Dokumentation von Beginn an sich von solch starken Emotionen leiten zu lassen, ist nicht gut. Es ist vielmehr eine Mischung der Gespräche, die man führt, sowie der Begegnungen mit anderen Menschen, die man filmt, und damit ein kollektiven Prozess. Viele der Leute, die bei La montaña vor der Kamera auftreten und erzählen, habe ich vorher noch nie gesehen und ich lerne sie, ebenso wie mein Zuschauer, erst kennen.

Viele Filmemacher haben eine Agenda oder verfolgen eine sehr traditionelle Struktur bei ihren Arbeiten, aber ich habe eine andere Herangehensweise, die für mich besser funktioniert. Darüber kommt es dann wohl zu dieser Wut und zu dieser Leidenschaft, von der Sie in ihrer Frage gesprochen haben. Das ist dann aber eine natürliche Folge und nicht von mir erzwungen.

Natürlich will ich etwas mit meinen Filmen verdienen, aber in erster Linie bin ich an den Geschichten und den Menschen interessiert, auch wenn ich an einem Drehbuch, einem Buch oder einem neuen Artikel schreibe.

Bevor es weltweit in den Lockdown ging, erschien auf der Homepage En Filme eine Liste mit fünf Empfehlungen von Filmen, die Sie allen empfehlen, sich während der Zeit der Isolation anzusehen. Nun, da die Pandemie mehr oder weniger überstanden ist, aber die Welt durch verschiedene Gründe noch komplizierter geworden ist, haben Sie eigentlich weitere Empfehlungen für unsere Leser*innen, um diese neue Welt etwas besser zu verstehen?

Diego Enrique Osorno: Da fällt mir zuerst Nostalgia de la luz von Patricio Guzmán ein. Darin geht es um die Geschichte Chiles, der Heimat des Regisseurs, und einer Reihe von Vermisstenfällen, die bis heute ungeklärt sind. Begleitet wird dies mit Bildern des schönen Sternenhimmels über dem Land und der Wüste. Die Idee ist, dass diese Fälle, wie auch die Sterne oder andere astronomische Phänomene, mit der Gegenwart verbunden sind.

Während der Dreharbeiten zu La montaña ließ ich mich von Werner Herzogs Fitzcarraldo sowie Les Blancs Burden of Dreams, einer Art Making-of zu Herzogs Film, inspirieren. An Bord des Segelschiffes schaute ich mir mit der Crew und der Besatzung beide Werke noch einmal an, sodass wir in dieser pessimistischen Zeit, in der wir leben, Kraft tanken für uns selbst.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.



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