Die Ecke

Die Ecke

Inhalt / Kritik

Im April 1945, dem Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg ein Ende findet, sind es nicht nur Geschichten oder Filmaufnahmen, die den Menschen einen Eindruck vom Geschehen vermitteln, sondern eben vor allem Bilder. Nicht selten in einem ideologischen Kontext geschossen, zeigen sie Aufnahmen der Gewinner, von einer Überlegenheit und einem Kampf gegen anti-demokratische Werte, die immer auch ihre ganz eigene Geschichte erzählen und von daher mit einer gewissen Distanz zu betrachten sind. Diese Aufgabe, die sich Historiker mit vielen anderen Gelehrten teilen, ist monumental, alleine schon wegen der schieren Bilderflut und der unterschiedlichen kulturell-politischen Kontexte, die es zu berücksichtigen gilt.

Ein Beispiel ist eine Aufnahme eines Straßenkampfes im thüringischen Dorf Oberdorla, welches einen Panzer, zwei heranstürmende US-amerikanische Soldaten sowie einen gefallenen Kameraden zeigt, welcher im Vordergrund zu sehen ist. Im besagten Zeitraum schmückte das Bild die Titelseite der New York Times und ging um die Welt, und wurde zuletzt noch einmal aufgegriffen, als ein Fotokünstler diese wie auch andere Aufnahmen aus der Zeit kolorierte und veröffentlichte. Dokumentarfilmerin Christa Pfafferott sah das Bild, wie viele andere Menschen, und war fasziniert von ihm, da durch die Nachbearbeitung die zeitliche Distanz, welche man sonst zu diesen Aufnahmen hat, aufgehoben schien, und begann die Arbeit an ihrem nächsten Projekt Die Ecke.

Das Bild definiert freilich den Anfang einer langen Reise, die Pfafferott und ihr Team begleiten und in Die Ecke in 90 Minuten nacherzählen. Es fängt an mit einer Besichtigung des Tatorts, Gesprächen mit den Bewohnern des Dorfes und deren Geschichten über die Ereignisse rund um die Aufnahme sowie schließlich einer Begehung des Ortes mit einem Forensik-Team, um die verschiedenen, teils sich widersprechenden Versionen der Ereignisse auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, sofern dies möglich ist. Zudem kommt einer der Verwandten des damals verstorbenen US-Soldaten zu Wort, der zum einen seine eigen, übermittelte Wahrheit über die Ereignisse erzählt und mit der Regisseurin jenen Ort begeht, den sein Vorfahr nicht mehr lebend verlassen sollte. Insgesamt ist Die Ecke spannendes Geschichtskino, das dem Zuschauer deutlich macht, wie nahe die Ereignisse der Vergangenheit noch heute sind, wie sehr Menschen und Orte mit ihnen verbunden sind und wie die Wahrheit bisweilen immer mehr einem Konstrukt ähnelt, welches sich aus verschiedenen Mosaiksteinen, Versionen von Ereignissen, zusammensetzt.

Das Vergangene kommt zum Vorschein

Zu Beginn von Die Ecke scheint Pfafferott so etwas wie ein Spiel mit dem Zuschauer zu spielen, denn durch entsprechende Überblendungen der unterschiedlichen Aufnahmen, des Bildes von 1945 und der Straßenecke wie sie heute ist, ist es fast schon unmöglich zwischen den beiden visuellen Ebenen zu unterscheiden. Diese Täuschung taucht immer wieder in den kommenden 90 Minuten der Dokumentation auf, für den Zuschauer wie auch die unterschiedlichen Gesprächspartner, die Pfafferott und ihr Team aufsuchen. Zuletzt ist es die Regisseurin selbst, die nicht mehr von einer Täuschung oder einem Spiel mehr ausgeht, sondern vielmehr demonstriert, wie nah die Vergangenheit eines eingefangenen Moments eigentlich noch ist, wie sie Leben bestimmt, den Alltag in einem Ort und zuletzt auch die Version der Wahrheit, welche letztlich an die nächste Generation weitergeleitet wird. „Das Vergangene kommt zum Vorschein“, erklärt Pfafferott in diesen ersten Minuten ihres Filmes, der zuletzt im Rahmen der DOK.Leipzig 2022 zu sehen war, und einem wird die fast schon prophetische Ebene dieser Aussage bewusst, der von einem Einzelfall ausgeht, der wahrscheinlich auf viele, ähnlich gelagerte Ereignisse anwendbar ist.

Der Zuschauer verfolgt in Die Ecke weniger eine Geschichtsdokumentation, sondern vielmehr eine Mischung aus Kriminalermittlung und Spurensuche. Spätestens wenn die Forensiker die Geschichten der Bewohner des Dorfes auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen und ihre Ergebnisse in einer 3D-Animation überführen, wird die Diskrepanz zwischen gemeinschaftlicher und individueller Wahrheit deutlich, was Pfafferotts Film ungemein interessant macht.

Credits

OT: „Die Ecke“
Land: Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Christa Pfafferott
Drehbuch: Christa Pfafferott
Musik: Martin Kohlstedt
Kamera: Johannes Praus

Filmfeste

DOK Leipzig 2022

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Die Ecke
fazit
„Die Ecke“ ist eine Dokumentation, die sich, ausgehend von einer historischen Aufnahme, auf die Suche nach den Hintergründen dieser aufmacht und aufzeigt, wie sehr das Vergangene noch in dem Gegenwärtigen vorhanden ist. Christa Pfafferott gelingt ein Dokumentarfilm, dessen Bezug auf eine bestimmte Aufnahme beispielhaft dafür ist, wie Wahrheit konstruiert wird, aus welchen Gründen auch immer.
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