Emmanuel Carrere Interview
Regisseur Emmanuel Carrère (© Neue Visionen Filmverleih)

Emmanuel Carrère [Interview]

In Wie im echten Leben erzählt Emmanuel Carrère die Geschichte der Autorin Marianne (Juliette Binoche), die sich als Putzfrau anheuern lässt, um später ein Buch über diese Erfahrungen zu veröffentlichen. Zum Kinostart des Dramas am 30. Juni 2022 unterhalten wir uns mit dem Regisseur und Autor über die Arbeit am Film, unsichtbare Berufe und den Kampf um Anerkennung.

 

Könnten Sie uns von der Entwicklung von Wie im echten Leben erzählen? Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Florence Aubenas hat 2010 ein Buch veröffentlicht, das bei uns in Frankreich sehr bekannt war und das ich selbst gleich zweimal gelesen habe. Man könnte sie ein wenig mit Günter Wallraff vergleichen, weil sie sich in ihrer Arbeit mit Menschen befasst hat, die auf der untersten Stufe der sozialen Leiter stehen und am schlechtesten bezahlt werden. Das waren vor allem die, die in der Reinigungsbranche arbeiten. Das Buch war damals ein großer Erfolg und zog ein großes Echo nach sich. Juliette Binoche wollte unbedingt eine Verfilmung davon und darin die Hauptrolle spielen. Aubenas war jedoch sehr zurückhaltend und wollte die Rechte eigentlich nicht hergeben. Sie ließ sich am Ende nur unter der Bedingung darauf ein, dass ich die Regie übernahm. Bis heute habe ich nicht wirklich verstanden weshalb, da ich kein besonders erfahrener Regisseur bin. Ich bin auch nicht unbedingt ein Spezialist für das soziale Kino. Aber am Ende dachte ich: warum nicht?

Das Buch von Aubenas ist bereits mehr als zehn Jahre alt. Was hat sich seither getan?

Nichts. Vielleicht hat sich die Lage sogar noch leicht verschlimmert seither. Die Leute werden nicht besser bezahlt, die Arbeitsbedingungen haben sich nicht verändert. Sie sind eigentlich auch nicht sichtbarer geworden. Vielleicht hat das Buch vereinzelt bei Menschen für ein stärkeres Bewusstsein gesorgt. Doch was die Sichtbarkeit angeht, hat sich nicht viel getan. Es gehört auch zu dieser Arbeit des Saubermachens dazu, dass sie einem erst dann auffällt, wenn Schmutz übrig bleibt. Wenn etwas sauber ist, wird es nicht bemerkt. Das trägt dazu bei, dass Reinigungskräfte für uns immer unsichtbar sind.

In Wie im echten Leben wird Marianne selbst zur Putzfrau, weil sie das Gefühl hat, sonst nicht über diese Menschen und ihre Arbeit sprechen zu können. Wie sah Ihre Vorbereitung aus? Haben Sie sich mit Putzfrauen unterhalten?

Tatsächlich sind alle Frauen in dem Film mit Ausnahme von Juliette Binoche im wahren Leben Putzfrauen und keine Schauspielerinnen. Sie arbeiten also alle in dem Bereich. Von daher sind ihre Erfahrungen in den Film miteingeflossen und wir haben uns intensiv ausgetauscht. Es gab also durchaus eine Recherche bei uns.

Im Film waren nicht alle Putzfrauen glücklich darüber, dass sich Marianne derart in ihr Leben eingeschlichen und über sie berichtet hat. Wie waren die Reaktionen Ihrer Laienschauspielerinnen auf den Film?

Die erste Vorführung von Wie im echten Leben war für die Frauen. Das war nicht nur die wichtigste Vorführung für mich, weil mir ihre Meinung so wichtig war, sondern auch die, vor der ich am meisten Angst hatte. Was wenn der Film ihnen nicht gefällt? Das wäre wirklich eine Katastrophe für mich gewesen. Zum Glück waren sie aber alle zufrieden und haben sich auch wirklich über den Film gefreut. Sie waren sogar ein bisschen stolz auf das Ergebnis.

Ganz allgemein: Wie viel muss man als Filmemacher über ein Thema wissen, um daraus einen Film machen zu können? Es liegt in der Natur dieses Berufs, das man sich immer wieder mit Themen befasst, mit denen man vorher keine Berührungspunkte hatte.

Das ist immer eine Frage der Prioritäten und die sind von Projekt zu Projekt verschieden. Bei Wie im echten Leben war es mir aber schon wichtig, dieses Milieu mit einer gewissen Genauigkeit darzustellen. Deswegen standen hier ganz klar die Darstellerinnen im Vordergrund und auch die Zusammenarbeit zwischen ihnen und Juliette Binoche. Hätte das nicht funktioniert, hätten wir mit ziemlicher Sicherheit eine Katastrophe gehabt. Es hat aber gut geklappt, das kann ich sagen. Meine Aufgabe dabei war es, sehr diskret im Hintergrund zu bleiben. Das war ein Film von den Frauen für die Frauen.

Wie würden Sie allgemein Ihre Rolle als Filmemacher beschreiben? Was möchten Sie erreichen?

Ich bin von Haus aus eigentlich kein Filmemacher, sondern in erster Linie ein Schriftsteller, auch wenn ich drei Filme gedreht habe. Jeder für sich hatte dabei eine eigene Geschichte. Aber ich mache kein Kino wie Michael Haneke. Da sind meine Möglichkeiten sehr viel beschränkter. Meine Aufgabe ist es daher, mich mit Leuten zu umgeben, die sehr kreativ sind und denen ich sehr viel Freiraum gebe. Meine größte Stärke als Filmemacher ist es glaube ich, dass ich ganz einfach sagen kann, wenn ich etwas nicht weiß.

Am Ende des Films sagen die Putzfrauen, die im Publikum sitzen, dass sie hoffen, durch das Buch würde sich etwas ändern. Wie sieht es bei Ihnen im Hinblick auf den Film aus, haben Sie diese Hoffnung auch? Ist es überhaupt realistisch, so etwas zu hoffen?

Das Buch war damals wie gesagt ein großer Erfolg und hat vielleicht ein bisschen dazu beigetragen, dass sich der Blick auf diese Arbeit verändert. Der Film hat diese Qualität vielleicht auch ein wenig, weil ich wirklich das Gefühl habe, einen Film gemacht zu haben, der einen gewissen Nutzen hat.

Und wie geht es jetzt weiter? Was sind Ihre Pläne?

Ich habe ein Jahr damit verbracht, den Prozess gegen die Attentäter vom November 2015 in Paris zu verfolgen und in einer französischen Wochenzeitung darüber zu berichten. Im September plane ich ein Buch zu veröffentlichen über diesen Prozess, in dem ich alles in einer Chronik festhalte. Das war ein Jahr, das mich sehr mitgenommen und durcheinandergewirbelt hat. Das war schon eine sehr einmalige Erfahrung.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Emmanuel Carrère wurde am 9. Dezember 1957 in Paris, Frankreich geboren. Er studierte Politikwissenschaft am Institut d’Études Politiques de Paris  und unterrichtete anschließend Französisch in Indonesien. 1982 arbeitete er als Filmkritiker für die Zeitschriften Positif und Télérama, im selben Jahr erschien sein erstes Buch Werner Herzog. Seinen ersten Roman L’Amie du jaguar veröffentlichte er 1983. Nach einer Reihe zum Teil preisgekrönter Bücher gab er 2005 mit dem Dokumentarfilm Retour à Kotelnitch sein Debüt als Regisseur. Wie im echten Leben ist sein dritter Film und feierte 2021 in Cannes Premiere.



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