Charter

Charter

Kritik

„Charter“ // Deutschland-Start: nicht angekündigt

Seitdem Alice (Ane Dahl Torp) und Matthias (Sverrir Gudnason) sich getrennt haben, herrscht ein erbitterter Kampf darum, wer die Kinder behalten darf. Derzeit leben sie beim Vater, zum Unglück von Alice, der nur wenig Zeit mit Elina (Tintin Poggats Sarri) und Vincent (Troy Lundkvist) eingeräumt wird – zumal sie es war, die weggegangen ist. Als Vincent eines Tages weinend bei seiner Mutter anruft, kämpft sie dafür, ihn mehr sehen zu dürfen, aus Sorge um sein Wohlbefinden. Doch was sie auch versucht, immer wieder scheitert sie mit ihrem Vorhaben. Und so lässt Alice sich zu einer Verzweiflungstat hinreißen: Sie taucht eines Tages bei der Schule von Vincent auf, nimmt diesen mit, um mit ihm und Elina nach Teneriffa zu fliegen. Dort will sie endlich die Zeit haben, die ihr zusteht und herausfinden, wie es den Kindern geht. Gleichzeitig setzt Matthias daheim Himmel und Hölle in Bewegung, um die entführten Kinder zurückzubekommen …

Wenn Beziehungen auseinander gehen, ist das oft für beide Seiten nicht einfach. Wer ist Schuld an dem Scheitern? Hätte man etwas anders machen können? Wie soll man sich in Zukunft gegenüber dem anderen verhalten? Der letzte Punkt wird besonders dann wichtig, wenn Kinder im Spiel sind und die Eltern eine Lösung finden müssen, mit der alle leben können. Dieser Drahtseilakt aus alten Verletzungen und der gemeinsamen Sorge um das Wohl der Kinder wird in Filmen immer mal wieder aufgegriffen. Marriage Story zeigte beispielsweise, wie ein Paar aus dem künstlerischen Bereich in den Krieg zieht, sich gegenseitig bis aufs Blut bekämpft bei der Frage, wer die Kinder haben darf. Solche Filme beziehen ihre Spannung oft aus der Neugierde, wie dieser Kampf ausgeht und wer sich am Ende wie durchsetzt.

Zwischen Idylle und Verzweiflung
Im Fall von Charter ist das ein wenig anders. Die Entscheidung, wie das Ganze ausgeht, die scheint schon gleich zu Beginn gefallen zu sein. Alice ist weggegangen, hat die Kinder verlassen, will sie ihrer Heimat entreißen, obwohl sie ihnen überhaupt kein stabiles Zuhause bieten kann. Denn dafür ist sie selbst nicht stabil genug, so hat es zumindest den Anschein. Aber ist sie wirklich psychisch krank, wie es Matthias behauptet? Oder ist ihre augenscheinliche Labilität das Ergebnis eben dieses Kampfes und der Vorenthaltung ihrer Kinder? So erschreckend ihr Anblick anfangs sein mag, so weckt sie doch auch das Mitgefühl des Publikums, das eine zusammenbrechende Mutter in all ihrer Verzweiflung beobachten darf. Eine Frau, der offensichtlich nie die Chance gegeben wird, sich überhaupt zu beweisen.

Ihre an Wahnsinn grenzende Verzweiflungstat, die Kinder einfach so zu entführen, so erschreckend sie auch ist, sie ist gleichzeitig irgendwie verständlich. Regisseurin und Drehbuchautorin Amanda Kernell (Das Mädchen aus dem Norden) generiert mit ihr gleichzeitig jede Menge Spannung. Immer wieder sehen wir idyllische Aufnahmen aus Teneriffa, mit schönen Stränden, einem blauen Himmel und sich sanft im Wind wiegenden Palmen. Doch über all dem liegt der Schatten, dass Alice geschnappt werden könnte, nun endgültig die Kinder verliert, möglicherweise sogar ins Gefängnis muss. Die Atmosphäre von Charter ist dabei geradezu surreal, wenn der Anschein eines Paradieses bewahrt werden muss, obwohl so gar nichts paradiesisch im Leben der Familie ist.

Die Tragik hinter dem Schweigen
Allgemein spielt Kernell sehr viel mit dem Gegensatz von Fassade und dem, was dahinter vor sich geht. Die Frage, warum Vincent am Telefon geweint hat, mag der Auslöser der Eskalation sein. Doch der Vorfall ist nur eines von mehreren Beispielen, wie zerstört die Kommunikation innerhalb der Familie ist. Alice sucht den Zugang zu ihren Kindern, weiß aber nicht, was sie sagen soll, sagt oft auf groteske Weise das Falsche. Die anderen wollen erst gar nicht reden, vor allem Elina hüllt sich in ein demonstratives Schweigen, blockiert jeden Versuch der Mutter, Gräben zu überbrücken.

Die Geschichte kommt deshalb auch eher weniger in Gang. Vielmehr erzählt das Drama, das auf dem Sundance Film Festival 2020 Premiere hatte, wie vier Leute im Leben feststecken, am Status Quo zerbrechen und doch nichts an diesem ändern können oder wollen. Das macht Charter zu einem sehr bitteren, tragischen Film. Aber auch zu einem sehr ambivalenten, bei dem die Einteilung in richtig oder falsch sehr schwierig ist. Weder ist Alice einfach nur die Verrückte, noch Matthias der eiskalte Tyrann, vor dem alle Angst haben. Nach und nach setzen sich die Mosaikstücke, die sich oft in kleinen Szenen und Nebensätzen finden lassen, zu einem widersprüchlichen Bild zusammen. Vor allem Hauptdarstellerin Ane Dahl Torp (The Man) fesselt mit der Darstellung einer komplexen, fragilen Frau, die sich in Träume stürzt, jede Andeutung von Leid im Leben ihrer Kinder gierig aufsaugt, in der Hoffnung etwas zusammenhalten zu können, was schon vor langer Zeit zerbrochen ist.

Credits

OT: „Charter“
Land: Schweden
Jahr: 2020
Regie: Amanda Kernell
Drehbuch: Amanda Kernell
Musik: Kristian Eidnes Andersen
Kamera: Sophia Olsson
Besetzung: Ane Dahl Torp, Troy Lundkvist, Tintin Poggats Sarri, Sverrir Gudnason

Bilder

Trailer

Filmpreise

Preis Jahr Kategorie Ergebnis
Europäischer Filmpreis 2020 Beste Darstellerin Ane Dahl Torp Nominierung

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In „Charter“ fürchtet sich eine Frau davor, ihre Kinder nach der Scheidung komplett zu verlieren, und entführt sie daher nach Teneriffa. Der Widerspruch aus idyllischem Paradies und dysfunktionaler Familie sorgt für Spannung, ebenso die Neugierde, wie die Geschichte ausgehen mag. Interessant ist das Drama aber vor allem als Porträt von Menschen und ihrer Situation, bei der die Wahrheit zu komplex ist und alles von Widersprüchen geprägt.
8
von 10