Tardes de Soledad – Nachmittage der Einsamkeit ist ein kompromissloses Porträt der Einsamkeit und des Rituals hinter den glanzvollen Kulissen des Stierkampfs. Albert Serra begleitet den peruanischen Matador Andrés Roca Rey einen ganzen Tag lang – von den stillen Vorbereitungen im Hotelzimmer bis zu den entscheidenden Momenten in der Arena. Die Kamera agiert als stiller Beobachter, der jede Geste, jedes Zögern und jeden Blick zum Teil der Erzählung macht. Gesprochener Kommentar ist auf ein Minimum reduziert, stattdessen lässt Serra das Bild und den Klang der Umgebung für sich sprechen. Auf diese Weise entsteht eine radikale Nähe: Man fühlt den Schweiß auf der Haut, den Staub in der Luft und das Pochen des eigenen Herzens beim Anblick der gefährlichen Choreografie.
Dokumentarfilm trifft Kunstkino
Die Bildkomposition ist von großer Präzision und Konsequenz geprägt. Nahaufnahmen zeigen zittrige Hände beim Anlegen der traditionellen Montur, während prägnante Totalen den staubigen Ring und die kargen Zuschauerreihen in Szene setzen. Serra verzichtet dabei ebenfalls fast vollständig auf musikalische Untermalung oder künstliche Klangkulissen; doch das Knirschen des Sandes, das entfernte Murmeln des Publikums und das metallische Klirren von Sporen und Schwertern ergeben ohne all dieses trotzdem eine beklemmende, beinahe sakrale Geräuschkulisse. Jeder Schnitt ist so angelegt, dass er den Blick des Zuschauers lenkt und die Spannung zwischen Ruhe und Gewalt verdichtet. Dieses visuelle und auditive Gerüst verleiht dem Film eine meditative Intensität, die man sonst eher bei experimentellen Kunstprojekten findet.
Der Regisseur bewegt sich damit Tardes de Soledad – Nachmittage der Einsamkeit erneut an der Schnittstelle von Dokumentarfilm und Kunstkino. Seine frühe Arbeit Ehre der Ritter (2006) führte bereits die strenge Reduktion drastischer Gesten vor, und mit Geschichte meines Todes (2013) sowie Der Tod Ludwig des XIV. (2016) hat er seine minimalistische Erzählweise perfektioniert. Pacifiction (2022) bestätigte seinen Ruf als lakonischer Chronist, der auch in scheinbar historischen Stoffen Machtmechanismen auslotet. Doch in Tardes de Soledad – Nachmittage der Einsamkeit erreicht Serra einen neuen Grad der Verdichtung: Hier verweben sich Tradition und Performance, Geschichte und Gegenwart so unmittelbar miteinander, dass die Zeit scheinbar stillsteht.
Ritual und Reflexion
Ausgezeichnet mit der Goldenen Muschel als bester Film beim 72. Internationalen Filmfestival San Sebastián, unterstreicht der Film Serras künstlerische Durchschlagskraft. Sein radikaler Zugang – jenseits konventioneller Dramaturgie und Erzählstrukturen – findet in der Filmwelt Anerkennung. Serra gelingt es, sein Publikum herauszufordern und gleichzeitig einzubinden, indem er die Grenzen des Mediums auslotet und dabei die Emotionen auf ein Minimum reduziert, um eine maximale Wirkung zu erzielen.
Denn abseits der Stierkampf-Arena entfaltet sich der Film zu einer provozierenden Reflexion über die Rolle von Gewalt als ästhetischem Faktor und die Einsamkeit des Einzelnen in traditionellen Machtspielen. Serra verzichtet auf moralische Kommentare und zwingt den Zuschauer dadurch, seine eigene Haltung zu hinterfragen: Ist der Stierkampf bloß archaisches Spektakel oder Spiegel menschlicher Überheblichkeit? Die fast schon sakrale Inszenierung der Vorbereitungen kontrastiert mit der rohen Brutalität des Finalakts, wodurch eine existenzielle Spannung entsteht. Herausgekommen ist ein Film, der in seiner formalen Strenge und thematischen Tiefe einen weiteren Meilenstein in Albert Serras Œuvre markiert.
OT: „Tardes de soledad“
Land: Spanien, Frankreich, Portugal
Jahr: 2024
Regie: Albert Serra
Drehbuch: Albert Serra
Musik: Ferran Font, Marc Verdaguer
Kamera: Artur Tort
Mitwirkende: Andrés Roca Rey
San Sebastian 2024
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