
Der Schauspieler Jiang Chen (Qin Hao) und der Regisseur Mao Xiaorui (er selbst) kennen sich seit vielen Jahren. Genau zehn Jahre ist es her, dass sie ihren ersten Film zusammen gemacht haben, doch das Projekt blieb, bis auf wenige Aufnahmen, unvollendet. Xiaorui möchte das Projekt aber endlich zu Ende bringen, sodass die Dreharbeiten in der Nähe von Wuhan wieder aufgenommen werden. Bevor es in die Neujahrspause geht, erreichen die Crew und die Schauspieler die Nachrichten vom Ausbruch eines Virus in Wuhan. Als Xiaorui so weit ist, die Dreharbeiten auf unbestimmte Zeit zu pausieren, wird das Hotel, in dem sie alle wohnen, unter Quarantäne gestellt. Jiang Chen bleibt, wie seinen Kollegen, nur das Handy, um Kontakt mit seiner Familie zu halten. Da seine Frau Sang Qi (Qi Xi) vor kurzem ein Kind zur Welt gebracht hat, ist diese Zeit besonders hart für sie beide. Hinzu kommen immer neue Nachrichten über die Ausbreitung des Virus sowie die Maßnahmen, welche die Regierung ergreift, um die Krankheit einzudämmen.
Ein „fertiger“ Film
Für den chinesischen Regisseur Lou Ye (Suzhou River) ist ein Film, der nicht fertig ist, nicht unbedingt etwas Schlechtes. Aus kommerzieller Sicht kann man dies natürlich anders sehen, doch Ye sieht es eher als Chance, etwas Anderes mit dem Material zu machen und einen neuen Film zu schaffen. Als die Pandemie den kulturellen Sektor lahm legte und lange Zeit keine Filme mehr gedreht werden durften, nutzte Ye, wie viele seiner Kollegen, die Gelegenheit, alles aufzunehmen, was um ihn herum passierte. Es war ein Ereignis, was mit großer Unsicherheit und Angst verbunden war, auf seine Zukunft bezogen, aber genauso auf seine Gesundheit und die seiner Familie und Freunde. An Unfinished Film, der auf den Filmfestspielen in Cannes 2024 seine Premiere feierte, kann als Yes Verarbeitung dieser Zeit gesehen werden. Der Film vermischt fiktionale mit dokumentarischen Elemente, Spielfilm- mit Archivaufnahmen, zu einer Geschichte über eine Zeit der Ungewissheit und der Furcht, doch genauso über das menschliche Bedürfnis, etwas zu erschaffen.
Wenn man die ersten Minuten von An Unfinished Film sieht, könnte man wirklich meinen, eine Dokumentation oder ein Making-of eines Filmes zu sehen. Xiaorui und sein Team betrachten alte Aufnahmen, wobei vor allem der Regisseur hin und weg ist von den Bildern von damals. Man sieht, wie in ihm das Verlangen wächst, die alten Figuren und die Handlung wieder aufzugreifen und das Projekt endlich abzuschließen. Es ist für weniger eine künstlerische Leistung, sondern mehr eine „Verantwortung“, wie er dem anfangs sehr skeptischen Jiang Chen erklärt, der sich schließlich doch auf das Projekt einlässt. Das „Unfertige“ ist das Prinzip von Yes Film, den man als Kommentar auf die Folgen der Pandemie verstehen kann.
Schon nach kurzer Zeit stellen sich beim Zuschauer Erinnerungen ein, beispielsweise auf die Zeit des Lockdowns, in denen die sozialen Medien oder das Handy die einzige Verbindung zur Außenwelt war. Hinzu kommt die Bilder- und Informationsflut, die Ye größtenteils als Archivaufnahmen einfügt, und die Zuschauer zurückholen in diese Zeit der Ungewissheit. An Unfinished Film ist aber weitaus mehr als eine Rekapitulation eines dunklen Kapitels der letzten Jahre, denn er zeigt auf, dass die Bilder, die Erlebnisse und die Erinnerungen nach wie vor in uns nachhallen. Yes Film kann nicht fertig sein, denn das würde implizieren, dass eine Verarbeitung schon vollbracht ist. Wie der Regisseur Xiaorui würden wir dieses Kapitel gerne abschließen, doch die Wunden sind noch zu frisch.
Stationen der Unruhe
An Unfinished Film ist grob unterteilt in zwei Abschnitte. Der erste, kürzere, behandelt die Genese des Projekts, während die zweite das abrupte Ende der Dreharbeiten und die aufgezwungene Quarantäne im Hotel behandelt. Lou Ye zeigt dabei die wachsende Unruhe der Menschen, wobei der von Qin Hao gespielte Joang Cheng besonders im Vordergrund steht. In seiner Mimik und der zunehmenden Verzweiflung seiner Figur, die zum Nichtstun verdammt ist und für die das Hotelzimmer zu einer besseren Zelle wird. Cheng wird zum Spiegelbild des Zuschauers, der verschiedenen Erfahrungen, die wir während der Pandemie durchgemacht haben.
Ye zeigt neben Archivaufnahmen auf Split-Screens, in denen wir die Telefonate Chengs mit seiner Frau sowie den anderen Mitgliedern der Filmcrew sehen. „Ich fühle mich weniger stark“, sagt er an einer Stelle zu seiner Frau, bezogen auf sein Alter, doch er meint zugleich die Situation. Die Sicherheit des Alltags ist durchbrochen und man wird zum „Opfer“ der verschiedenen Informationen und der schrecklichen Bilder. Ye zeigt auch einen Moment der Rebellion, doch dies bleibt eine Ausnahme von der Regel. An Unfinished Film mag kein besonders abwechslungsreicher Film sein, aber er bringt das Trauma der Pandemie und des Lockdowns auf den Punkt, also einer Erfahrung, die nach wie vor noch nicht einmal ansatzweise verarbeitet wurde, weil alles wieder schnell zurück zum Alltag drängte.
OT: „An Unfinished Film“
Land: Singapur, Deutschland
Jahr: 2024
Regie: Lou Ye
Drehbuch: Lou Ye, Yingli Ma
Kamera: Zeng Jian
Besetzung: Qin Hao, Mao Xiaorui, Qi Xi, Huang Xuan, Liang Ming, Zhang Songwen, Youyou
Cannes 2024
Toronto International Film Festival 2024
International Film Festival Rotterdam 2025
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