
Die zwölfjährige Anna (Siena Popović) ist neu auf dem Wiener Gymnasium und versucht in ihrer Klasse Anschluss zu finden. Das ist jedoch leichter gesagt als getan, denn ihre gehörlose Mutter kann sich und ihre Tochter mit ihrem Job in einer Wäscherei gerade so über Wasser halten, sodass Anschaffungen wie ein neuer Pulli oder gar die anstehende Skifahrt der Klasse schon eine Herausforderung für die beiden darstellen. Das sind aber noch nicht einmal die größten Probleme Annas, denn die anderen Mädchen ihrer Klasse kommen aus ganz anderen Verhältnissen als sie und denken anders über Themen wie Liebe oder Beziehungen. Und dann ist da noch ein Junge in der Klasse, ein Schwarm der Mädchen, mit dem Anna sehr gerne zusammen wäre. Ihre Freundschaft zu der gleichaltrigen Mara (Jessica Paar) verändert ihre Denkweise, denn Mara kann mit ihren Mitschülerinnen nicht viel anfangen und bestätigt Anna in ihrem Anderssein. Als sich im Leben ihrer Mutter und damit in ihrem eine Veränderung abzeichnet, muss sich die Teenagerin entscheiden, ob sie dazugehören will oder sich für das Anderssein entscheidet.
Mindestsicherung
Eigentlich sollte das Spielfilmdebüt von Regisseurin und Autorin Marie Luise Lehner einmal Anna. Mindestsicherung heißen, doch weil man diesen Titel nicht gut ins Englische übersetzen kann, entschied sich Lehner für ein Zitat aus Aglaja Veteranyis Warum das Kind in der Polenta kocht. Bei dem ersten Titel ging es ihr um die Doppeldeutigkeit, der zum einen die „soziale Zuwendung zum Staat“ und zum anderen das „Mindestmaß an Sicherheit“ evoziert, wie Lehner in Interviews zu Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst, der auf der diesjährigen Berlinale gezeigt wird, erklärt. Das Coming-of-Age Drama ist eine unterhaltsame, berührende und immer wieder sehr komische Geschichte über das Anders-Sein und den zeitlosen Konflikt vieler Menschen, die sich für einen individuellen Weg in ihrem Leben entscheiden müssen oder ob sie mit dem sprichwörtlichen Strom schwimmen.
Einer der beliebtesten Orte Wiens, der Prater, ist immer wieder im Hintergrund in Wenn du Angst hast … zu sehen, doch scheinbar für die Protagonistin unerreichbar. Die Karussells und Attraktionen sind wie helle Inseln innerhalb der Stadt, die für Anna und bisweilen auch ihre Mutter wie Gefängnis wirkt. Lehner bedient sich ästhetisch eines Realismus, wie man ihn aus den Kitchen-Sink-Dramen des britischen Kinos kennt, vermischt diesen aber zugleich mit einer gewissen Leichtigkeit, wie man ihn vielleicht auch bei einem Film über Jugendliche erwartet. Anns Welt ist klar abgesteckt, doch diese Grenzen sind für sie noch unsichtbar, alleine schon deswegen, weil sie gerade noch dabei ist, sich selbst zu entdecken und zu definieren.
Was in vergleichbaren Geschichten um Themen wie Jugend und Identität entweder mit einer gewissen Schwere oder mangelnder Authentizität erzählt wird, wirkt in Lehners erstem Spielfilm unverkrampft und nimmt die Charaktere ernst. Die finanzielle Lage ist ebenso Teil von Annas Welt wie auch das Liebesleben ihrer Mutter, deren aufkeimende Beziehung zu einem neuen Mann und die Überwindung ihrer Einsamkeit. Das Ziel ist immer in Rufweite und zeichnet sich am Horizont ab, aber der Weg bis dahin ist noch sehr weit in Wenn du Angst hast …. Lehners Figuren müssen nur ihren eigenen Weg finden, selbst wenn man ihnen Steine in den Weg legt.
„In allem anders“
Auf der Berlinale-Seite zu Marie Luise Lehners Film wird dieser mit Etiketten wie „Queer Coming of Age“ und „Sisterhood“ belegt. Davon sollte man sich nicht täuschen lassen, denn in Wenn du Angst hast … geht es um weitaus mehr als „nur“ diese beiden Aspekte. Siena Popovićs Anna ist eine Figur, wie man sie nur sehr selten in vergleichbaren Geschichten findet, denn sie ist echt. Mal kann man mit ihr lachen und weinen, während man in anderen Momenten sie am liebsten schütteln würde, weil sie unfair oder geradezu grausam agiert.
Sie wird zu einem Spiegel für eine ganze Generation, die vor einer Entscheidung steht, welche noch viel schwieriger geworden ist im Laufe der Zeit, wobei Lehner noch nicht einmal auf die Problematik von Aspekten wie social media stark eingehen muss. In allem müssen sie anders sein, wirft Anna ihrer Mutter an einer Stelle vor und definiert damit das eine Extrem dieser Entscheidung, die vor ihr steht und die ihr ganzes Leben bestimmen wird. Am Ende ist Anna über den Dächern der Stadt, schreit „Scheiß auf dich Wien“ herunter und scheint einen Weg für sich gefunden zu haben. In diesem Moment schafft Lehner eines der besten und vielleicht schönsten Happy Ends des noch jungen Kinojahrs 2025.
OT: „Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst“
Land: Österreich
Jahr: 2025
Regie: Marie Luise Lehner
Drehbuch: Marie Luise Lehner
Kamera: Simone Hart
Besetzung: Siena Popović, Mariya Menner, Jessica Paar
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