
Die Engels sind eine ganz normale, dysfunktionale deutsche Wohlstandsfamilie: Während Mutter Milena (Nicolette Krebitz) ihre Selbstzweifel bei ihrem Job in der Entwicklungsarbeit zu ersticken versucht, kann ihr Mann Tim (Lars Eidinger) bei seiner Arbeit im Marketing zwar wunderbar Worthülsen aufbauschen, sehnt sich aber vor allem danach, in seiner Beziehung wieder gesehen zu werden – in seiner ganzen Männlichkeit und Verletzlichkeit. Tochter Frieda (Elke Biesendorfer) und ihre Polycule geben sich einerseits langen Partynächten mit Drogen hin, setzen andererseits aber auch Ökoaktionen à la Letzte Generation um. Ihr Zwillingsbruder Jon (Julius Gause) hat den Kontakt zur realen Welt fast völlig aufgegeben und tummelt lieber in den Tiefen eines VR Spiels. Und dann ist da noch Milenas Sohn Dio (Elyas Eldridge), der wöchentlich zwischen seinem Vater Godfrey (Toby Onwumere) und den Engels hin und her pendeln muss.
Dann tritt unversehens die Syrerin Farrah (Tala Al-Deen) als Putzhilfe ins Leben der Familie. Mit Hilfe eines ominösen Lichtapparats bringt sie die Engels nach und nach dazu, die lang erlernte Isolation und Kommunikationslosigkeit zu durchbrechen, und sich einander wieder anzunähern.
Tykwers Blick auf die Welt – und unser Spiegelbild
Tom Tykwer war die letzten Jahre mit Babylon Berlin wohl recht beschäftigt, denn sein letzter Kinofilm liegt tatsächlich bereits neun Jahre zurück. Und es hat sich in dieser Zeit wohl einiges aufgestaut in ihm. Denn mit Das Licht – dem Eröffnungsfilm der diesjährigen Berlinale – setzt der Regisseur zu einem komplexen Monumentalwerk an, das nicht weniger als den Zustand unserer Gesellschaft durchleuchtet. Der Film greift dabei unzählige Themen auf – von Migration, den Privilegien der weißen Wohlstandsgesellschaft, von Klimaaktivismus bis hin zu Mutterschaft und Männlichkeit. Auch bei einer Länge von über zwei Stunden können hier nicht alle Fragen beantwortet, alle Geschichten zu Ende erzählt werden, und doch gelingt es Tykwer außergewöhnlich gut, dieses Sammelsurium zusammenzuhalten.
Das zentral verbindende, sogar heilende Element des Filmes bildet Farrah, eine Person mit Migrationshintergrund – was in erfreulichem Gegensatz zu den politischen Wahlkampferzählungen dieser Tage steht. Brillant gespielt von Neuentdeckung Tala Al-Deen, ist ihre Figur fast schon eine mythische Gestalt, unergründlich und doch menschlich, die allen anderen ohne Vorwürfe oder Verurteilungen begegnet. Auch der übrige Cast erfüllt seine Aufgabe gut, dem Publikum diese Familie emotional nahe zu bringen, obwohl sie uns gnadenlos die eigenen Unzulänglichkeiten spiegelt: Wir selbst sind es, die Schuld tragen am Zustand der Welt. Und Tykwer bietet auch die Lösung: Nur wenn wir uns einander wieder zuwenden, ehrlich und offen, können wir gemeinsam unser Happy End herbeiführen. Ganz sicher wird es einige geben, denen diese Botschaft zu einfach ist. Doch vielleicht ist dieses Licht, das dem Film Titel und Metapher gibt, genau die hoffnungsvolle Vision der Zukunft, die wir gerade brauchen.
Berlin als Bühne für cineastische Glanzmomente
Doch es gibt noch mehr, was den Film über bloßes Popcornkino hinaushebt. Tykwers Liebe für die Stadt Berlin trieft aus jeder Filmszene und schenkt uns einige ikonische Großstadtmomente – wie eine Fahrradszene, die sich vor dem französischen Klassiker Jules und Jim verneigt. Als besonderen Kniff hüllt der Regisseur die Hauptstadt in prasselnden Dauerregen und lässt die Protagonist:innen so näher zueinander rücken, schafft intime Räume selbst in der anonymen City. Zudem nutzt Tykwer ein ganzes Register ungewöhnlicher cineastischer Mittel, um das Innenleben seiner Figuren nach Außen zu bringen: Egal ob musicalähnliche Tanzszenen, Comicsequenz oder Unterwasserszene – in Das Licht bekommt man es zu sehen. Diese wundervollen Momente der Fantastik und ein intelligenter Plottwist führen uns vor, was Kino sein kann: grenzenlos. Verrückt. Magisch. Schon allein dafür lohnt sich der Kinogang.
Das Licht ist nicht perfekt. Ein Film, der den Anspruch hat, die verschiedensten Perspektiven und Generationen in einem repräsentativen Status Quo darzustellen, muss sich wohl die kritische Frage gefallen lassen, ob das von einem Regisseur geleistet werden kann, der klar in die Kategorie „alter weißer Mann“ fällt. Denn bei aller Selbstkritik und Offenheit für neue Blickwinkel, die Tykwer in seinem Film zweifellos zeigt, wurde die Welt in den letzten paar hundert Jahren womöglich ausreichend mansplaint. Die Engels mit ihrer großzügigen Parkettwohnung im Gründerzeithaus repräsentieren zudem eher das wohlhabende, intellektuelle Bürgertum als die (deutsche) Gesellschaft insgesamt. Und ob es wirklich nötig war Lars Eidinger mehrfach nackt über den Bildschirm laufen zu sehen, ist ebenfalls fraglich. Doch diese Mängel sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier etwas Wunderbares entstanden ist: anspruchsvolles, unterhaltsames und definitiv großes Kino.
OT: „Das Licht“
Land: Deutschland
Jahr: 2025
Regie: Tom Tykwer
Drehbuch: Tom Tykwer
Musik: Johnny Klimek, Tom Tykwer
Kamera: Christian Almesberger
Besetzung: Nicolette Krebitz, Lars Eidinger, Tala Al-Deen, Elke Biesendorfer, Julius Gause, Toby Onwumere
Ihr wollt mehr zum Film erfahren? Wir haben uns mit Regisseur Tom Tykwer zum Interview getroffen und mit ihm über Das Licht gesprochen.
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