Trúc Lâm (Nano Nguyen) wohnt in einem kleinen Ort im Erzgebirge in Sachsen. Das ist für eine junge Vietnamesin eigentlich ein ziemlich trübsinniger Platz, doch Trúc Lâm ist fasziniert von der sächsischen Landschaft, vom Gebirge, das so ganz anders ist als in ihrer Heimat. Bei einer Bergwerksführung trennt sie sich von der Gruppe und gelangt durch einen Nebenschacht auf die andere Seite des Berges, wo sie den gleichen Ort vorfindet – aber mit anderen Menschen darin. In dieser Parallelwelt jenseits des Berges lernt sie Duc (Tri An Bui) kennen, der ebenfalls aus Vietnam kommt und dessen Familie einen Asia-Imbiss betreibt. Und dann ist da noch dieser mysteriöse Geist, der mit ihr einen Handel abschließen möchte, um ihr die Rückkehr auf ihre Seite des Berges zu ermöglichen …
Vietnamesische Perspektiven im Erzgebirge
Man kann wohl davon ausgehen, dass Lonig & Havendel stark von der Biografie seiner Regisseurin inspiriert wurde. Claudia Tuyết Scheffel wurde als Tochter einer vietnamesischen Vertragsarbeiterin und eines ostdeutschen Vaters in Chemnitz geboren und wuchs im Erzgebirge auf, wo sich auch die Handlung ihres Abschlussfilms abspielt. Die Protagonisten werden mit vielen Situationen konfrontiert, die junge Menschen mit Migrationshintergrund und familieren Wurzeln in Vietnam sicher sehr gut kennen dürften. Ganz beiläufig wird die bis zum Rassismus grenzende Ignoranz der Deutschen ohne Migrationshintergrund offenbart, wenn die Gasthauswirtin Vietnam und China oder der Bergwerksmitarbeiter Trúc Lâm nicht von Ducs Schwester auseinanderhalten kann, obwohl Letztere im Ort aufgewachsen ist.
Ebenso zeigt sich, wie schwierig sich die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Generationen migrantischer Familien gestaltet: Trúc Lâms Mutter kann die Faszination ihrer Tochter an der sächsischen Landschaft überhaupt nicht nachvollziehen. Noch schlimmer ist es mit Duc und seinen Eltern, die sich nicht einmal merken können, was ihr Sohn überhaupt studiert (Toningenieur). Gleichzeitig fällt es auch Duc schwer, sich in die Situation seiner Eltern zu versetzen, was ihm von seiner Schwester – dem Lieblingskind der Eltern – auch vorgehalten wird.
Neben diesem vor allem mit Konflikten aufgeladenen Thema durchdringt den Film jedoch auch eine starke Zuneigung für diese (neue) Heimat. Das Publikum wird eingeladen, die sächsische Landschaft mit Trúc Lâm aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, bei der Busfahrt mit ihr auf das Grün und die bergige Landschaft zu schauen, durch die verschneiten Wälder zu stapfen und die frische Luft zu atmen und dabei dieselbe Faszination und Liebe für diesen sächsischen Ort zu entwickeln. Die sächsische Landschaft wird beinahe zu einer weiteren Protagonistin des Films, auf der die Kamera nur allzu gern verweilt, mal träumerisch-idyllisch, mal mysteriös bis bedrohlich. Das kulminiert in Trúc Lâm Wunschvorstellung, selbst als Berg Teil der Natur zu werden. Es wird jedoch nicht ausgeblendet, dass das Leben auf dem Lande auch seine Begrenzungen hat, z.B. wenn nur drei Optionen zum auswärts essen bestehen oder von Freunden berichtet wird, die seit ihrem Wegzug nach Berlin kaum noch in Kontakt sind.
Unklare Figuren und fragmentierter Plot
Der Zwiespalt von Liebe und Konflikten, der Clash von Generationen und unterschiedlichen Kulturen findet auch musikalischen Niederschlag. Manchmal werden Szenen mit sphärischen Instrumentalklängen und deutschen Volksliedern (oder Schlagern?) untermalt. Das ist künstlerisch sinnvoll, irritiert beim Anschauen aber durch Uneinheitlichkeit. Und diese Irritation setzt sich leider auch an anderen Stellen fort.
Bei einem Abschlussfilm von schauspielerischen Glanzleistungen auszugehen wäre sicherlich überzogen und die meisten Darsteller:innen machen ihre Sache recht solide. Jedoch leidet der Film an der völligen Ausdruckslosigkeit seiner Hauptdarstellerin. Sollte ihr immer gleicher Gesichtsausdruck als filmisches Stilmittel gedacht sein, so erschließt es sich leider nicht, sondern sorgt nur für absolute Ratlosigkeit. Trúc Lâm bleibt als Persönlichkeit so unklar wie der Nebel in den sächsischen Tälern. Ihre Beweggründe und Motivationen werfen im Verlauf der Handlung immer wieder Fragen auf. Wie kam sie überhaupt an diesen Ort? Warum streitet sie sich mit ihrer Zimmergenossin darüber, nicht auf eine Party eingeladen worden zu sein, obwohl sie eigentlich überhaupt nicht an solchen Unternehmungen interessiert zu sein scheint? Mal ganz davon abgesehen, wie unrealistisch und irrsinnig es ist, in einem Bergwerk einfach in einen Schacht wegzuwandern – wobei man das als Treiber der Story noch am ehesten verzeihen kann.
Der Plot hat insgesamt einige Schwächen und Lücken. Viele der wirklich interessanten Themen, die oben schon genannt wurden, werden nur angerissen, aber dann nicht weiter ausgeführt oder zu Ende erzählt. Damit gestaltet der Film sich vor allem als eine Aneinanderreihung von Episoden. In der ersten Filmhälfte fällt es schwer, der Erzählung zu folgen. Während der Titel Lonig & Havendel suggeriert, dass hier eine Welt völlig auf dem Kopf steht, unterscheiden sich die beiden Städte dies- und jenseits des Berges kaum voneinander und man begreift erst recht spät, dass es sich um eine Parallelwelt handeln soll. Ebenso rätselhaft bleibt es, warum der bedrohlich auftretende Geist, der immer wieder auftaucht und seinen düsteren Handelsvorschlag wiederholt, Trúc Lâm letztlich einfach so einen Wunsch erfüllt.
Durch die Probleme im Schauspiel, sowie der Fragmentierung und Unklarheit der Story kann der Film trotz spannenden Ansätze, Elemente und gesellschaftlicher Themen leider nicht überzeugen. Es bleibt zu hoffen, dass die Regisseurin ihr zweifellos vorhandenes Potential in einem künftigen Projekt besser zu einem gelungenen Ganzen zusammenfügen kann.
OT: Lonig & Havendel
Land: Deutschland, Tschechien
Jahr: 2025
Regie: Claudia Tuyết Scheffel
Drehbuch: Claudia Tuyết Scheffel
Musik: Florian Illing
Kamera: Yunus Çağ Köylü
Besetzung: Nano Nguyen, Tri An Bui, Bijan Benjamin, Long Dang Ngoc, Niklas (Niki) Wetzel
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