De helaasheid der dingen Die Beschissenheit der Dinge
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Die Beschissenheit der Dinge

Inhalt / Kritik

De helaasheid der dingen Die Beschissenheit der Dinge
„Die Beschissenheit der Dinge“ // Deutschland-Start: 20. Mai 2010 (Kino) // 14. April 2011 (DVD/Blu-ray)

Der Schriftsteller Gunther (Valentijn Dhaenens) wartet auf seinen Durchbruch, während er sich mit Minijobs über Wasser hält und mit persönlichen Problemen konfrontiert sieht. Er fragt sich, ob sein Schicksal als Versager unabwendbar war und beginnt, über seine Jugend in der flämischen Provinz nachzudenken und über sie zu schreiben. Es sind die 1980er und der 13-jährige Gunther (Kenneth Vanbaeden) lebt gemeinsam mit seinem Vater, seinen Onkeln und seiner Großmutter in prekären Verhältnissen. Gunther wandert in Erinnerungen an einen Alltag geprägt von Alkoholismus, Pöbeleien, familiärem Zusammenhalt und der ständigen Angst vor dem Jugendamt und überträgt diese auf seine jetzige Situation.

Zwischen Alkoholismus und Roy Orbison

Regisseur Felix Van Groeningen (Beautiful Boy) inszeniert einen Film, der sich durch sein schillerndes Porträt einer Familie am Rand der Gesellschaft und am unteren Ende der gesellschaftlichen Sozialstrukturen auszeichnet. Der Film arbeitet dabei mit ebenso romantisierenden wie schonungslosen Momenten, um eine höchst ambivalente Lebenssituation zu zeichnen. Ähnlich wie Protagonist Gunther lachen wir, wenn die Familie mit den Nachbarn zu Oh, Pretty Woman tanzt und sind schockiert, wenn es zu Auswüchsen häuslicher Gewalt kommt.

Kernelement dieser Darstellung ist neben den tollen Hauptdarstellern vor allem die Inszenierung. Mal chaotisch, mit schnellen Schnitten, vielen Dutch Angles und mal ganz melancholisch, ruhig und gesetzt zeigt uns Felix Van Groeningen, wie nah Freud und Leid doch bei einander liegen. Dabei verwendet Die Beschissenheit der Dinge seine vielen stilistischen Mittel, wie ein Wechsel zum Schwarz-Weiß, stets kreativ und präzise.

Ein Problem, das daraus folgt, ist jedoch, dass es gerade in der ersten Hälfte so wirkt, als wolle der Film viele Stilmittel nur ihrer selbst willen ausprobieren. Folglich mäandert der Film lange Zeit etwas vor sich hin, ohne sichtbaren narrativen Fortschritt zu erbringen. Das tun ihm die Figuren mit ihren Leben zwar gleich, trotzdem wird es beim Schauen doch etwas eintönig und lange Zeit geschieht nichts mit dem Diskussionsgegenstand der sozialen Unterschicht.

Das Verlassen der sozialen Unterschicht?

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu erwähnt in seiner Theorie der Sozialen Praxis die an Unmöglichkeit grenzende Schwierigkeit, den Habitus, also die von der sozialen Herkunft geprägten persönlichen denk- und verhaltensbestimmenden Anlagen zu verlassen. Die Beschissenheit der Dinge thematisiert genau das, indem eine Relation zwischen Jugend und Haupthandlungszeitpunkt Gunthers erforscht wird. So sieht Gunther sich damit konfrontiert, ähnliche Fehler zu machen wie sein Vater und befürchtet genauso zu werden wie dieser, obwohl es doch so scheint, als habe er den sozialen Aufstieg zum belesenen Autoren geschafft.

Der Film zeichnet dabei kein so finsteres Bild wie Bourdieu, verweist aber immer wieder auf sich intergenerational wiederholende Verhaltensmuster und stellt Kausalitäten zwischen früher Erlebtem und späteren Entscheidungen Gunthers her. Insbesondere die eingebaute Erzählinstanz des schreibenden Gunthers, die immer wieder das Gezeigte bewertet und darüber reflektiert, zeigt dessen eigene Abhängigkeit an das Geschehene. Dinge, die er nicht problemlos tun kann, bei denen er sich befremdlich fühlt, werden, vor allem was den Umgang mit Frauen angeht, auf seine Sozialisierung zurückgeführt.

Familie und Konformitätsdruck

Ein interessanter Aspekt ist die Rolle, die der Familie zugeschrieben wird. So wächst Gunther in einer Familie auf, in der der familiäre Zusammenhalt und der Erhalt der Familienehre über allem anderen steht. So treten praktisch alle innerfamiliären Streitereien aufgrund eines vermeintlichen Verrates der Familie oder Ähnlichem auf. Die Familie ist zu respektieren. Das gilt auch für sie als Wertegemeinschaft. Wenn getrunken wird, dann wird getrunken, egal, ob eine Person am nächsten Tag nüchtern irgendwo erscheinen muss. In der Familie hat sich das Individuum unterzuordnen, was das Verlassen der Familie als einzige Möglichkeit des Nachgehens persönlicher Probleme, Talente und Wünsche offenlässt.

Immer wieder werden Dinge angesprochen oder gezeigt, die der junge Gunther macht, ohne Lust auf sie zu haben. Und umgekehrt Dinge, die ihm aus Konformität der Familie gegenüber versagt bleiben. Dabei handelt es sich bei Letzterem gar nicht unbedingt um aktive Verbote und bewusste Entscheidungen, sondern vielmehr um ein implizites Unterordnen gegenüber den familiären Wertevorstellungen. Gerade was die Sexualität und sexuelle Identität Gunthers angeht, werden einige spannende Sachen angedeutet, die sich dem schreibenden Erwachsenen nicht erschlossen zu haben scheinen. Auch der Film bleibt hierbei sehr vage, stellt aber immer wieder die Frage, was sein hätte können.

Final präsentiert uns Die Beschissenheit der Dinge aber das Dilemma, das entsteht, wenn wir von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden und uns deshalb umso mehr auf Sozialstrukturen wie Familie berufen. Zum einen bieten sie Halt, Vertrautheit und Akzeptanz in einer feindseligen Welt, verwehren aber andererseits auch die Möglichkeit der freien Persönlichkeitsentfaltung in einem ihr immanenten Selbsterhaltungsprinzip, das sich durch Konformitätsdruck äußert.

Credits

OT: „De helaasheid der dingen“
Land: Belgien, Niederlande
Jahr: 2009
Regie: Felix Van Groeningen
Drehbuch: Christophe Dirickx, Felix Van Groeningen
Musik: Jef Neve
Kamera: Ruben Impens
Besetzung: Kenneth Vanbaeden, Valentijn Dhaenens, Koen De Graeve, Johan Heldenbergh, Wouter Hendrickx, Bert Haelvoet

Bilder

Trailer

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Die Beschissenheit der Dinge ist ein stimmiges Sozialdrama, das nicht nur pointierte Milieustudie ist, sondern auch viele interessante Fragen über den sozialen Aufstieg und Konsequenzen aus der sozialen Herkunft stellt. Toll gespielt und inszeniert zeichnet er ein ambivalentes Bild zwischen Zusammenhalt und Unterdrückung als Folge sozialer Strukturen. Leider ist er in der ersten Hälfte etwas langatmig und nimmt erst im letzten Drittel richtig Fahrt auf.
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