
Der Dokumentarfilm WO/MEN der Regisseurinnen Kristine Nrecaj und Birthe Templin widmet sich einem außergewöhnlichen sozialen Phänomen im ländlichen Albanien: den Burrneshas (oder auch „geschworenen Jungfrauen“). Laut einem seit langem praktizierten, mündlich überlieferten Gewohnheitsrecht namens Kanun dürfen Frauen die soziale Rolle eines Mannes annehmen, verbunden mit einem Keuschheitsschwur. Dies fand traditionell vor allem Anwendung, wenn es an männlichen Erben fehlte, um die Familie zu versorgen und/oder zu beschützen. Für manche Frauen war es allerdings auch die einzige Möglichkeit, um einer arrangierten Heirat zu entgehen oder sich grundsätzliche Rechte und Freiheiten anzueignen, die Männern vorbehalten waren (z.B. Waffenbesitz oder das Ergreifen von bestimmten Berufen). WO/MEN zeigt die Lebenswege und den Alltag von sechs ganz verschiedenen Burrneshas auf und zeichnet dadurch ein umfassendes Bild einer Tradition, die es in dieser Form in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr geben wird.
Von kraftvollem Einstieg zu stiller Beobachtung
Der Film beginnt visuell und akustisch eindringlich: Ein treibender musikalischer Beat untermalt den Zusammenschnitt unterschiedlichster Szenarien – von einem einsam im Schnee dahinziehenden Pferd über eine feministische Demo bis hin zur Frontalaufnahme einer rauchenden Protagonistin. Das Publikum wird unmittelbar in das filmische Universum hineingezogen und erhält einen Ausblick auf das, was im Verlauf des Films passieren wird. Der nachfolgende, ruhigere Erzählfluss steht dazu in deutlichem Kontrast, nimmt sich Zeit für Blicke, Pausen und emotionale Tiefe. Die Kamera begleitet die sechs Burrneshas beim Arbeiten, beim Zusammensein mit anderen, beim Nachdenken über ihr Leben.
Den Zuschauer:innen wird erst relativ spät im Film erläutert, was es mit der Burrnesha-Tradition auf sich hat, sodass sich alle, die mit dem Thema noch nicht in Berührung gekommen sind, anfangs etwas orientierungslos fühlen können. Eine Stärke des Films ist es hingegen, die Frauen in ihrer Individualität, ihren ganz eigenen Persönlichkeiten und verschiedenen Lebenswegen sichtbar zu machen, die sie zu der besonderen Lebensweise führten: Da gibt es eine Burrnesha, die sich ihrem Vater zuliebe auf die Rolle eingelassen hat, eine Andere wiederum sah darin die Möglichkeit, die Familie finanziell zu unterstützen, eine Dritte fühlte sich schon immer eher in der männlichen Rolle wohl und hätte sich anderswo womöglich als Transmann identifiziert.
Alltag, Landschaft und der Blick in die Tiefe
Die biografischen Hintergründe verweben sich mit Momentaufnahmen aus dem Alltag: eine Taxifahrt über Land, ein Gläschen Selbstgebranntes mit dem Nachbarn, der Besuch einer feministischen Theateraufführung in der Hauptstadt Tirana. Ohne erklärende Kommentare oder Experteninterviews setzt der Film ganz auf die Präsenz seiner Protagonistinnen – ein Ansatz, der Raum für Zwischentöne bietet, aber ebenso Fragen aufwirft und zuweilen unbeantwortet lässt. Das Ganze bewegt sich meist vor der Szenerie der wunderschönen albanischen Landschaft – vom Gebirge und grünen Wäldern bis hin zum Meer. Die urbanen Szenen in Tirana und eine Reise in die USA bilden hierzu atmosphärische Kontraste.
Besondere emotionale Tiefe bekommt der Film immer dann, wenn die Konsequenzen des Burrnesha-Daseins greifbar werden: Eine der Frauen erzählt von der Trauer darüber, keine Familie gegründet zu haben, eine andere davon, wie sehr sie sich Bildung für ihre jüngeren Familienmitglieder wünscht, weil ihr selbst der Zugang dazu verwehrt blieb. Gleichzeitig gibt es auch Stimmen, für welche die bewusste Entscheidung für diese Lebensform eine Art Emanzipation darstellte – als Strategie für Freiheit und Selbstbestimmung, aber immer mit dem Wehmutstropfen, dass dies für sie der einzige Ausweg aus einem System war, das Frauen sonst keine Möglichkeiten bot.
Gesellschaftliche Enge und moderne Reflexion
Es wird eindrücklich vermittelt: Die sozialen Spielräume, die den Protagonistinnen als Burrneshas offenstanden, hätten ihnen als Frauen nicht offen gestanden. Ihre Geschichten führen vor Augen, dass das, was als „natürliche“ Geschlechterordnung gilt, oft schlicht die Folge gesellschaftlicher Rollenzuweisung ist. Wer nicht zur Ehe gezwungen werden will, wer Bildung will, wer allein über die Straße gehen möchte, musste unter bestimmten Umständen das Geschlecht wechseln – zumindest im sozialen Sinne. Und auch wenn die Genderrollen, mit denen die Burrneshas aufwuchsen, mitunter geradezu mittelalterlich wirken, wirft der Film doch erstaunlich moderne Fragen dazu auf, was es bedeutet, sich als Mann oder Frau in der Gesellschaft zu bewegen, und inwieweit wir uns von klassischen Zuschreibungen wegbewegen (sollten).
OT: WO/MEN
Land: Deutschland
Jahr: 2024
Regie: Kristine Nrecaj, Birthe Templin
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