
In ländlichen Regionen kann man heute noch beobachten, dass viele Menschen nach der Ernte auf den Feldern nach den liegen gebliebenen Feldfrüchten suchen. In seiner 1857 erschienen Radierung Les Glaneuses hat der französische Maler Jean-François Millet diesen Sammlern ein Denkmal geschaffen. Seinerzeit wurde das Werk wegen seiner Dimension und seines Themas eher kritisch betrachtet. Die Darstellung von Armut angesichts der reichen Ernte, die vorher stattgefunden hatte, war eine Ironie, die viele Kritiker als geschmacklos empfanden. Dabei ist die Darstellung von Sammlern als solche in der Kunst durchaus keine Seltenheit. Die Regisseurin Agnès Varda, ihrerseits so etwas wie eine Sammlerin, fühlte sich schon immer zu dieser wie auch anderen Darstellungen des Sammelns hingezogen. Für eines ihrer bekanntesten Projekte sollte sie nicht nur das Thema aufgreifen, sondern zugleich einen Blick auf die Menschen dahinter werfen, warum diese sammeln, Früchte nach der Ernte von den Bäumen pflücken oder in modernen Großstädten den Müll nach „Schätzen“ durchsuchen.
Innerhalb von Vardas Filmografie ist Die Sammler und die Sammlerin sicherlich eines der bekanntesten Werke der Regisseurin. Die Dokumentation, die 2016 von der BBC als einer der 100 besten Filme des 21. Jahrhunderts gelistet wurde, ist zugleich Vardas erstes Werk, in dem sie eine Digitalkamera nutzt. Darüber hinaus diktieren, wie in Die Strände von Agnès oder Augenblicke: Gesichter einer Reise, Menschen, Gegenstände und nicht zuletzt Zufälle die Struktur des Films sowie dessen Bildsprache. Im Falle von Die Sammler und die Sammlerin verbinden sich gar Form und Thema, wenn Varda erklärt, sie sei gewissermaßen eine Sammlerin dieser Bilder und Eindrücke, die andere vielleicht links liegen lassen würde oder nicht als ästhetisch genug ansehen. Die Dokumentation, die auf dem DOK.fest München 2025 im Rahmen einer Retrospektive zu sehen sein wird, ist ein Porträt von Menschen, die zurückgelassen wurden und die – ob freiwillig oder nicht – am Rande der Gesellschaft ihren Platz gefunden haben. Darüber hinaus ist Die Sammler und die Sammlerin eine Geschichte über den Überfluss in unserer Welt und kann als Plädoyer für Nachhaltigkeit verstanden werden.
Das ist kein Müll
Neben den Personen, die auf Feldern Früchte oder Gemüse nach der Ernte sammeln, begleiten wir Sammler in der Großstadt. Wir sehen einen jungen Mann, der nach dem Wochenmarkt, in den als Abfall deklarierten Resten nach Essbarem sucht. Der schnelle, prüfende Blick genügt und sogleich wandern Salatblätter, Tomaten oder Äpfel in seinen Mund, die laut seiner Aussage noch gut sind, aber für die Händler auf dem Markt nicht mehr verkäuflich. Der Zuschauer, wie auch Varda selbst, ist neugierig geworden und wir folgen dem Mann zu seiner Wohnung und seiner Arbeit, während wir seiner Philosophie lauschen. Es ist nur eine von vielen Begegnungen, bei denen die Neugier und Empathie Vardas dem Publikum eine Begegnung ermöglichen, die uns eine neue Sicht auf die Welt eröffnet.
Später hören wir von einen Mann, dem ein großes Unglück im Leben widerfahren ist und der nun vom Sammeln auf dem Feld lebt. Dann kommt ein Künstler zu Wort, der den Sperrmüll seiner Mitbürger täglich nach noch brauchbaren Gegenständen durchforstet und diese für seine Kunst verwendet. Die offene Sympathie, die Varda diesen Menschen entgegenbringt, überträgt sich auf den Zuschauer, der natürlich weiterdenkt. Das sich wiederholende Bild von Dingen und Lebensmitteln, die nicht der Norm entsprechen, nicht mehr verkäuflich sind oder „verdorben“, wird zu einem Sinnbild des Überflusses, der für viele ein Leben ermöglicht. Andererseits zeigt Varda auf, wie der Wert dieser Gegenstände bemessen wird, wie willkürlich er teils verteilt wird und wie viel im Auge des Betrachters liegt. Die seltsam geformte Kartoffel mag keiner in seinem Einkaufsbeutel haben wollen, aber der erfahrene Sammler bemerkt, sie schmeckt doch prima zu etwas Frischkäse.
OT: „Les glaneurs te la glaneuse“
Land: Frankreich
Jahr: 2000
Regie: Agnès Varda
Drehbuch: Agnès Varda
Musik: Joanna Bruzdowicz, Isabelle Olivier
Kamera: Didier Doussin, Stèphane Krausz, Didier Rouget, Pascal Sautelet, Agnès Varda
Cannes 2000
Toronto International Film Festival 2000
DOK.fest München 2025
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