
Wie macht Vera Brandes (Mala Emde) das nur: So zu tun, als gehöre das legendäre Kölner Jazzlokal „Café Campi“ einfach ihr? Und das mit 16, als Schülerin? Isa (Shirin Eissa), Veras beste Freundin, möchte das wissen. „Na, ich tu‘ halt so“, gibt Vera zurück. Frechheit siegt. Mit diesem Spirit wickelt sie auch den britischen Saxofonisten Ronnie Scott (Daniel Betts) um den Finger, der gerade im „Campi“ spielt. Weil Vera von niemandem ein Nein akzeptiert, möchte Ronnie, dass sie seine Deutschlandtour organisiert. Obwohl sie sowas noch nie gemacht hat. Und Vera? Tut halt so. Aber nicht nur das. Zwei Jahre später versucht sie, den Pianisten Keith Jarret (John Magaro) ins ehrwürdige Kölner Opernhaus zu locken. So zu tun als ob, reicht hierfür allerdings nicht. Die Widerstände sind gewaltig. Nicht zuletzt, weil am Nachmittag des Konzertabends ein kaputter und verstimmter Probeflügel auf der Bühne steht. Und keineswegs der „Bösendorfer Imperial 290“, den Keith verlangt hatte. Der große Traum der blutjungen Konzertveranstalterin droht zu platzen.
Musik aus dem Nichts
Jazztage Berlin, 1973. Keith Jarret sitzt gebeugt vor seinem Flügel. Die Spannung steigt. Noch hat der berühmte Pianist keinen einzigen Ton gespielt. Endlich legt er die Hände auf die Tasten, probiert die ersten Klänge. Schnitt auf Vera: Wie Keith scheint sie in Trance geraten zu sein. Die Augen leuchten, eine Träne bildet sich. So schön kann Musik sein, die aus dem Nichts entsteht, ohne vorgegebenen Standard, jeden Abend anders. Vera ist verzaubert, wie von einer Liebe auf den ersten Blick. Es ist dieser Moment, an dem das Anliegen des Regisseurs am deutlichsten wird. Der israelische, in New York lebende Ido Fluk (The Ticket, 2017) verbeugt sich mit seinem Film vor allen Ermöglichern der Kunst. Vor denen, die nicht im Scheinwerferlicht stehen, aber mit ihrer bedingungslosen Liebe und Hingabe ein Ereignis wie das legendäre The Köln Concert von Keith Jarrett überhaupt erst auf die Bühne bringen. Die Liveaufnahme von damals gilt als das erfolgreichste Soloalbum der Jazzgeschichte. Gerade weil dabei so vieles schief lief, weil Jarret sich den begrenzten Möglichkeiten des Flügels anpasste und dabei eingängiger spielte als sonst.
Auch die Filmproduktion musste improvisieren. Denn anders als ihre Fans sind Jarret und sein Musikproduzent Manfred Eicher (im Film gespielt von Alexander Scheer) bis heute nicht von der Qualität des Kölner Konzerts überzeugt. Sie wollten mit dem Film nichts zu tun haben (übrigens genauso wenig wie mit der Liveaufnahme) und untersagten jede Verwendung von Jarrets Musik. Stattdessen hören wir Songs der frühen 1970er aus ganz unterschiedlichen Genres. Sie haben den Vorteil, dass sie zugleich den Zeitgeist transportieren, der eine unglaubliche Geschichte wie die der realen Vera Brandes überhaupt erst möglich machte. Die Politrockgruppe Floh de Cologne ist mit Fließbandbaby vertreten, es erklingen elektronische und psychedelische Klänge von den Avantgardisten um Can, aber auch bekannte Jazz- und Popstücke wie To love somebody, das sich am Ende über das Kölner Konzert legt.
Launiger Vortrag zur Jazzgeschichte
Zum unterhaltsamen Charakter der leicht verdaulichen Jazzstory trägt neben der direkten Ansprache ans Publikum vor allem die fiktive Figur des Jazzjournalisten Michael Watts (Michael Chernus) bei. Der Mann, der zu langen Haaren stets Krawatte und Sakko trägt, hält einerseits einen launigen Vortrag über die Geschichte der improvisierten Musik. Der richtet sich natürlich nur an die Laien im Publikum, erweist sich aber als äußerst hilfreich, um das Außergewöhnliche von Jarrets Solo-Konzerten würdigen zu können. Andererseits sorgt die liebevoll ironisierte Hilflosigkeit der schreibenden Zunft, Musik mit Worten fassen zu wollen, für eine gute Prise Humor. Vor allem im zweiten Teil des Films, einer langen Autofahrt zu dritt (Jarret, sein Manager und der Journalist) in einem klapprigen „R4“ von der Schweiz nach Köln, speist sich die Komik aus den Gegensätzen dreier komplett unterschiedlicher Typen. Wie nebenbei erfährt man dabei auch Essentielles über Keith Jarret: über seine Spiritualität, über seine Hingabe an die Stille und über das Trancehafte seiner Improvisationen.
Vera verlieren wir dabei ein wenig aus dem Blick. Umso furioser gerät ihr Part dann im Finale, das auch als ein Remake von Lola rennt durchgehen könnte. Mala Emde ist als Vera ständig am Sprinten, die rhythmisierten Schnitte übertragen die Hektik in den Zuschauerraum, und die Uhr tickt, ohne dass man sie ins Bild rücken müsste. Zwar weicht die filmische Geschichte aus dramaturgischen Gründen ein wenig von der realen ab. Aber dafür erreicht dieses Musikdrama seinen Zweck mit Bravour. Es will nämlich nicht allein die eingefleischten Jazz-Enthusiasten ansprechen, und auch nicht nur die Musikbegeisterten im Publikum. Sondern alle, die eine staunenswerte Geschichte lieben. Gerade, wenn sie überwiegend wahr ist.
OT: „Köln 75“
Land: Deutschland, Belgien, Polen
Jahr: 2024
Regie: Ido Fluk
Drehbuch: Ido Fluk
Musik: Hubert Walkowski
Kamera: Jens Harant
Besetzung: Mala Emde, John Magaro, Michael Chernus, Alexander Scheer, Jördis Triebel, Ulrich Tukur, Susanne Wolff
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