Sedmikrásky Tausendschönchen
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Tausendschönchen – kein Märchen

Sedmikrásky Tausendschönchen
„Tausendschönchen“ // Deutschland-Start: 1969 (Kino) // 27. Juli 2012 (DVD) // 27. April 2023 (Kino-Wiederaufführung)

Inhalt / Kritik

Marie (Jitka Cerhová) und Marie (Ivana Karbanová) stellen die moralische Verdorbenheit der Welt fest. Der für sie logische Schluss: Auch sie müssen verdorben werden. Und gesagt, getan. Ab jetzt heißt es, stehlen, rumlümmeln, sich von gut betagten alten Herren ausführen lassen und vor allem futtern, futtern, futtern.

Das Haar in der Suppe

Das Ganze passiert dabei eher episodisch, anstatt einer klaren Handlung oder Dramaturgie zu folgen. Auch hintergründig erfahren wir nichts über die Protagonistinnen. Ihre einzige relevante Motivation ist, sich einer verdorbenen Welt anzupassen, also Moral und Konvention über Bord zu werfen. Und konsequenterweise passiert das nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf filmischer Ebene. Regisseurin Věra Chytilová zeigt in diesem Hauptwerk der Tschechoslowakischen Neuen Welle, was Neue Welle eigentlich bedeutet. Nämlich den künstlerischen Mittelfinger ausstrecken, während man das Medium handwerklich und erzählerisch in neue Bahnen lenkt.

Und genau das passiert in Tausendschönchen. Es könnte dem Film nicht ferner sein, ein Eintauchen in eine Geschichte mit abgeschlossener Heldenreise zu ermöglichen. Nein, hier geht es ausschließlich um etwas, das sich auf der Meta-Ebene abspielt: Provokation. Ziel sind alle, die den konservativen, patriarchischen und autoritär-repressiven Status Quo repräsentieren, egal ob in Politik, Gesellschaft oder eben Film. Oder wie Tausendschönchen es selbst sagt: „Dieser Film ist allen Menschen gewidmet, deren größtes Problem das Haar in ihrer Suppe ist.“

In der konkreten Umsetzung zeigt sich das auf den ersten Blick vor allem durch psychedelische Bilder, bunte Farben, wilde Schnitte und den scheinbar grenzenlosen Hedonismus seiner Figuren. Wer in Tausendschönchen aber ausschließlich ein Spektakel des Spektakels wegen erkennen will, sollte genauer hinschauen. Denn nur, weil der Film seine Unzufriedenheit mit dem Status Quo jeder zuschauenden Person mit einem lachenden Vorschlaghammer ins Gesicht prügelt, heißt das nicht, dass der Film keine inhaltliche Tiefe besitzen würde. Tausendschönchen ist in Teilen fast schon beeindruckend präzise, wenn es darum geht, Moral und Doppelmoral zu dekonstruieren oder schlicht das Maximum aus seiner Inszenierung zu holen. Und das zu entdecken, ist eine Freude, die die Party auf der Handlungsebene noch weit übersteigt.

Anarcho-Feminismus?

Aufgrund dieser häufig verkannten inhaltlichen Tiefe ist auch der für den Film ach so oft verwendete Begriff des Anarcho-Feminismus unzureichend. Zwar ist er nicht grundsätzlich falsch, aber Tausendschönchen ist nur im aller engsten Sinne als anarchistisch zu bezeichnen. Denn der Film versucht in seiner scheinbaren Regellosigkeit nicht, eine valide Handlungsalternative zur von Fleiß, Bescheidenheit und häuslich geprägten Moral der Tschechoslowakei vor dem Prager Frühling darzustellen. Vielmehr ist er satirisch und seziert eben diese Moral bis auf das kleinste Detail nahezu makellos. Tausendschönchen weiß genau, was er tun muss, um das Haar in der Suppe des Establishments zu sein. Und dieser Rolle ist sich der Film genau bewusst. Er zeigt, wie ein Leben aussehen würde, wenn sich die moralisch Verdorbenen so verhalten würden, wie das Establishment ihnen nachsagt.

Moralisch Verdorbene sind in diesem Fall alle, die die etablierte Moral und das politische System ablehnen sowie die, die durch beides diskriminiert werden, also in erster Linie Frauen. Denn über anarchistische Ansätze in Film lässt sich vielleicht streiten, ein feministischer Film ist Tausendschönchen auf jeden Fall und ein großartiger noch dazu. Angefangen beim Titel arbeitet er sich am patriarchischen Bild der passiven Frau ab und zeigt die Absurdität dessen auf, indem die Protagonistinnen sich immer wieder entsprechend verhalten, durch dieses Verhalten aber unmittelbar mit anderen Aspekten der Moral brechen. Es zeigt sich hervorragend, wie lächerlich die moralischen Grenzen gesetzt sind, wenn ein selbst konsequentes Befolgen dieser zwangsläufig im Verstoß dieser endet. Die Diskrepanz zwischen dem patriarchalen Wunsch, sich als Frau quasi wie ein unschuldiges Kind zu verhalten, das vom Mann versorgt und behütet werden kann, während man gleichzeitig diesem zur Befriedigung sexueller und sonstiger Bedürfnisse bereitsteht, wird dabei besonders intensiv thematisiert. Gerade das kindliche Auftreten der Protagonistinnen, sei es, um ältere Männer zu verführen oder in anderen Situationen, ist besonders prägnant und zeigt die beschriebene Absurdität wirklich exzellent.

Der fröhlichste wütende Film der Welt

Hauptverantwortlich für dieses Auftreten ist das fantastische Schauspiel von Jitka Cerhová und Ivana Karbanová, die typisch für die Tschechoslowakische Neuen Welle, Laiendarstellerinnen waren. Ja, die Rollen sind nicht gerade von subtilem Schauspiel geprägt, doch gerade die staksigen Bewegungen und die expressive Mimik der beiden sind essenziell für den Film und sollten nicht unterschätzt werden. Denn bei all der politischen Feinfühligkeit gilt auch betont, wie sehr Tausendschönchen auch davon lebt, schrill, laut und bunt zu sein.

Der Film strotzt in jeder vorstellbaren Dimension vor Kreativität und versprüht trotz seiner höchst kritischen Natur ein Maß an Lebensfreude und Energie, das man nicht oft in Filmen findet. Tausendschönchen lebt definitiv von seinem spielerischen Element, inhaltlich wie inszenatorisch. Und das heißt dann eben auch, sich eine Stummfilmsequenz, Bilder in blau, grün oder gelb oder eine riesige Essensschlacht anzuschauen. Wenn man es schafft sich darauf einzulassen, findet man nicht nur einen Zugang zu den Themen des Films, es fällt fast schwer, diesen Film nicht zu lieben. Es fällt schwer, nicht die 75 Minuten Laufzeit durchgehend zu schmunzeln. Und es fällt schwer, in ihm kein absolutes Meisterwerk zu sehen, das es problemlos mit jedem Godard, Buñuel oder Jodorowski aufnehmen kann.

Credits

OT: „Sedmikrásky“
Land: Tschechoslowakei
Jahr: 1966
Regie: Věra Chytilová
Drehbuch: Věra Chytilová, Pavel Juráček, Ester Krumbachová
Musik: Jiří Šust, Jiří Šlitr
Kamera: Jaroslav Kučera
Besetzung: Jitka Cerhová, Ivana Karbanová, Julius Albert, Jan Klusák, Marie Češková, Jiřina Myšková, Marcela Březinová

Bilder

Trailer

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Tausendschönchen – kein Märchen
fazit
„Tausendschönchen“ ist ein Erlebnis. Sicherlich für manche zu abgedreht versteht der Film es wie kaum ein Zweiter, einen Rundumschlag gegen das politische und filmische Establishment zu verteilen, der gleichzeitig genauso wuchtig wie präzise ist. Wahnsinnig intelligent, kraftvoll und ein einziges Fest, ihm dabei zuzuschauen, sich inhaltlich wie inszenatorisch zu entfalten.
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