Marc Forster (rechts) und sein junges Ensemble von "White Bird" (© LEONINE STUDIOS)

Marc Forster [Interview]

Basierend auf der gleichnamigen Graphic Novel von R. J. Palacio erzählt White Bird von der jungen Sara (Ariella Glaser), die während des Zweiten Weltkriegs in einem besetzten französischen Dorf lebt. Lange fühlte sie sich dort sicher, bis zu dem Tag, als ihre Familie und auch die übrige jüdische Bevölkerung abgeholt wird. Zu ihrem Glück wird sie jedoch von ihrem Mitschüler Julien (Orlando Schwerdt) gerettet, der sie in der Scheune ihrer Eltern versteckt. Zum Kinostart am 11. April 2024 haben wir uns mit Regisseur Marc Forster unterhalten. Im Interview sprechen wir über die Arbeit an der Adaption, die Prägungen durch die Vergangenheit und inspirierende Filme.

Warum hast du bei White Bird mitgemacht? Was hat dich an dem Projekt gereizt?

Ich habe die Graphic Novel von R. J. Palacio gelesen, so etwa sechs Wochen nach dem Shutdown in 2020. Die Liebesgeschichte hat mich wahnsinnig inspiriert, dieses Märchenhafte. Gleichzeitig fühlte ich mich so, als wäre ich mit Sara in einem Raum und würde das wirklich erleben. Nach sechs Wochen Shutdown konnte ich mich wohl besser hineinversetzen, was es heißt, in dieser Scheune eingesperrt zu sein. Und dann sind da natürlich lauter Themen drin, die sehr aktuell sind, wie Mobbing und Antisemitismus. Da sind so viele Elemente, die auch losgelöst vom Holocaust funktionieren. Das hat mich einfach inspiriert.

Wie schwierig war es, aus dieser Graphic Novel einen Film zu machen? War die Geschichte darin schon so komplett, dass ihr sie direkt übernehmen konntet, oder musstet ihr sie irgendwie erweitern?

Sie war relativ komplett, groß erweitern mussten wir nicht. Ich würde sagen, so 85 Prozent.

Was waren ansonsten die Herausforderung bei der Umsetzung?

Mir war es wichtig, dass man sich von Anfang an in diese Figuren hineinversetzen kann. Du brauchst das, wenn später diese märchenhaften Dinge geschehen, aber auch die grauenvollen, um dann wirklich in der Geschichte zu bleiben. Wenn du dich nicht in diese Charaktere hineinfühlst, gehst du diese Schritte nicht mehr mit. Da ist es natürlich super, wenn du jemanden wie Helen Mirren hast, die eine so tolle Schauspielerin ist und dich sofort mitnimmst.

Dennoch ist Mirren nicht die Hauptdarstellerin, sondern Ariella Glaser und Orlando Schwerdt, die nicht so bekannt sind und den Film tragen müssen. Wie schwierig war es, sie zu finden?

Das Finden war nicht so schwierig. Das Casting an sich war aber schon gewöhnungsbedürftig, da das während Corona alles per Zoom lief. Ich habe sowas vorher noch nie gemacht und war nicht daran gewöhnt. Es war vor allem schwierig, weil du auf diese Weise nicht siehst, welche Chemie die beiden haben. Wir haben uns dann das erste Mal bei den Proben in Prag getroffen und habe einfach gehofft, dass es am Ende klappt. Wenn die Chemie nicht gestimmt hätte, hätte ich noch einmal neu casten müssen. Aber zum Glück ging das alles sehr gut.

Und wonach hattet ihr gesucht beim Casting? Was war dir wichtig?

Mir war wichtig, dass die zwei glaubwürdig sind und ich es ihnen einfach abkaufe, was da geschieht, gerade die emotionalen Geschichten. Die beiden Figuren machen im Laufe des Films eine Wandlung durch. Und das musste eben überzeugen, sonst funktioniert der ganze Film nicht.

White Bird wird auch als eine Art Vorgeschichte zu Wunder verkauft, der vor einigen Jahren im Kino lief. Spielte der für deinen Film eine Rolle? Hast du dich irgendwie daran orientiert?

Ja, schon. Wir haben auch Bryce Gheisar genommen, der schon in „Wonder“ den Julian gespielt hat. Ich hätte das nicht gemusst, wollte aber auf diese Weise für Kontinuität sorgen. Palacio wollte das auch.

Der Wunder war damals sehr erfolgreich. Und du hast auch sonst einige Filme gedreht, die Teil von einem großen Franchise waren und bei denen große Namen beteiligt waren. Das muss doch mit einigem Druck verbunden sein. Wie gehst du damit um?

Ich denke gar nicht so sehr über diese großen Namen nach und versuche einfach, den Film so gut wie möglich zu machen. Wenn ich erst einmal anfange darüber nachzudenken, mit wem ich da zusammenarbeite und welche tollen Filme sie schon gedreht haben, werde ich zu sehr abgelenkt. Ich versuche lieber, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren und das beste Ergebnis aus ihnen herauszuholen.

Durch diese Rahmenhandlung um Sara als alte Frau, sehen wir, wie sie durch diese Erlebnisse geprägt wurde. Um dort anzukommen, wo sie jetzt ist, musste sie viele schreckliche Erfahrungen machen. Würdest du White Bird mehr als einen inspirierenden oder einen tragischen Film bezeichnen?

Ich wollte einen Film machen, bei dem schon Tragik dabei ist, der am Ende aber in erster Hinsicht inspirierend ist und auch Hoffnung verbreitet. Da sollte schon ein Licht am Ende des Tunnels sein.

Sara hat sich durch die Erfahrungen im Holocaust weiterentwickelt. Denkst du, dass die Menschheit insgesamt sich dadurch weiterentwickelt hat? Zuletzt konnte man daran ja wieder zweifeln, wenn der Holocaust relativiert ist.

Das hofft man doch. Aber wie du schon sagst, momentan ist der Trend gar nicht so. Wenn wir uns ansehen, was gerade so in der Welt geschieht, dann wirst du daran erinnert, dass Demokratien keine Selbstverständlichkeit sind. Momentan hast du das Gefühl, dass es sogar mehr Diktaturen als Demokratien gibt. Das macht mich schon sehr nervös.

Du hast gemeint, dass dein Film inspirierend sein soll. Denkst du, dass Filme wirklich etwas bewegen können?

Man kann andere nicht ändern, man kann höchstens sich selbst ändern. Ich selbst wurde als Teenager sehr von Filmen inspiriert, zum Beispiel von Stars Wars: „Die Macht ist in dir“. Das ist etwas, das mir geblieben ist. Deswegen denke ich schon, dass Filme und Kino einen Einfluss auf dich haben können, ebenso wie Musik oder Malerei oder Literatur. Es ist aber so, dass wir durch Technologie oder soziale Medien viel von unserer Aufmerksamkeit aufgesogen wird. Das macht es manchmal schwierig noch mitzubekommen, was draußen in der Welt geschieht. Ich denke deshalb, dass das Kino durchaus noch eine Renaissance erleben kann, weil du da für zwei Stunden etwas hast, auf das du dich konzentrieren kannst, ohne dass du ständig von Neuigkeiten abgelenkt wirst. Hinzu kommt, dass im Internet so vieles einfach nicht stimmt, dass du gar nicht mehr weißt, was noch wahr ist. Beispielsweise versuche ich seit Jahren mein Geburtstag auf Wikipedia zu ändern. Da steht immer noch, dass ich am 30. November Geburtstag habe, obwohl ich im Januar Geburtstag habe.

Filme spielen auch in White Bird eine große Rolle. Die beiden bauen sich in der Scheune einen Projektor auf und stellen sich beim Anschauen der Filme vor, woanders zu sein. Damals waren Filme natürlich noch etwas Besonderes, heute hast du ständig irgendwo Videos laufen. Können Filme einen heute noch so zum Träumen bringen, wie es bei deinen Figuren der Fall ist?

Ich bin da jetzt mal naiv-optimistisch und sage „ja“. Aber es stimmt schon, dass die Situation heute eine andere ist. Ich denke, dass es auch viel damit zusammenhängt, in welchem Umfeld du aufwächst. Ich könnte mir vorstellen, dass für Menschen auf dem Land, die einfach nicht so viele Menschen sehen wie die in der Stadt, ein Film noch mehr zum Träumen verleitet.

Welcher Film hat dich zuletzt zum Träumen gebracht?

Past Lives – In einem anderen Leben ist schon ein sehr schöner Film, der mir sehr nahe gegangen ist. Da geht es auch um Erinnerungen und wie wir durch unsere Erfahrungen geprägt sind.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Marc Forster wurde am 27. Januar 1969 in Illertissen geboren. Er zog mit seiner Familie von Deutschland in die Schweiz, als er noch ein Kind war, und besuchte dort eine internationale Schule. Mit zwanzig wechselte er in die USA über und studierte Film in New York. Sein erster Film war das experimentelle Low-Budget-Werk Loungers (1995), welches beim Slamdance Festival ausgezeichnet wurde. Anschließend drehte er das Psychodrama Everything Put Together (2000), das beim Sundance Film Festival und den Film Independent Spirit Awards nominiert wurde. Mit seinem dritten Werk Monster’s Ball (2001) gelang ihm der Sprung zum großen Kino: Das Drama handelt von einer Frau, die sich unwissentlich in den Mann verliebt, der ihren Mann zuvor hingerichtet hat, und brachte Hally Berry einen Oscar als beste Hauptdarstellerin ein. Sein vierter Film Wenn Träume fliegen lernen (2004), ein sehr freies Biopic über den Peter Pan Autor J. M. Barrie, war sogar für sieben Oscars im Rennen, Foster selbst wurde für einen Golden Globe und einen BAFTA Award nominiert. Später drehte er unter anderem den Agententhriller James Bond 007: Ein Quantum Trost (2008) und die Zombie-Apokalypse World War Z (2013).



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