Saint Omer
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Saint Omer

„Saint Omer“ // Deutschland-Start: 9. März 2023 (Kino) // 8. September 2023 (DVD)

Inhalt / Kritik

Die Tat ist absolut ungeheuerlich: Laurence Coly (Guslagie Malanda) soll ihr 15 Monate altes Baby ins Meer gelegt haben, wo es dann ertrank. Doch warum hat sie das getan? Und ist sie schuldig oder war sie in dem Moment nicht zurechnungsfähig? Auch die Professorin Rama (Kayije Kagame) ist an der Geschichte interessiert und reist dafür extra von Paris in die nordfranzösische Stadt Saint Omer, um dort an dem Prozess teilzunehmen. Schließlich hat sie vor, im Anschluss darüber zu schreiben. Was zunächst wie ein klarer Fall zu sein scheint, wirft schon bald jedoch viele Fragen auf – die Coly selbst nicht unbedingt beantworten kann …

Die Frage nach der Schuld

Auch wenn inzwischen nicht mehr so wahnsinnig oft Beispiele hierfür auf den Markt kommen, im Laufe der Zeit gab es doch eine ganze Reihe von Gerichtsdramen, die zu großen Publikumsmagneten wurden. Vor allem in den 1990ern waren diese Filme sehr beliebt, seien es John Grisham Adaptionen wie Die Juryoder auch Zwielicht und Eine Frage der Ehre. Der Reiz dieser Filme lag dabei einerseits in der Frage, was denn genau geschehen ist, wenn nach und nach im Laufe des Prozesses und der damit verbundenen Ermittlungen die Wahrheit enthüllt wird. Aber auch die diversen Wortgefechte, bei denen das Publikum mitzittern durfte, ob denn nun die Guten gewinnen werden, sorgte für Spannung.

Auf den ersten Blick könnte man auch Saint Omer für einen solchen Film halten. So spielt nahezu der gesamte Film im Gerichtssaal. Und auch wenn der Tathergang klar ist – Laurence leugnet nicht, dass sie das Kind im Wasser zurückgelassen hat –, so steht doch die Frage im Raum: Warum hat sie das getan? Wer sich das französische Drama anschaut, in der Erwartung, dass eben diese Antwort das Ziel ist, der sieht sich getäuscht. Hier gibt es keine großen Enthüllungen oder plötzlich gefundene Beweismittel, die alles auf den Kopf stellen. Es gibt kaum Auseinandersetzungen, bei denen sich Anklage und Verteidigung irgendetwas an den Kopf werfen. Und es gibt auch nicht die eindeutige Einteilung in gut und böse, wenn wir im Laufe des Prozesses mehr über die junge Frau erfahren, die so Schreckliches getan hat.

Überlegungen zu Identität

Die eigentlich für Dokumentarfilme bekannte Regisseurin und Co-Autorin Alice Diop macht es dabei weder ihren Figuren noch dem Publikum einfach. So werden im Laufe der zwei Stunden die unterschiedlichsten Punkte mal angesprochen. Ein wichtiger Teil davon ist die Beziehung zu dem älteren weißen Mann Luc Dumontet (Xavier Maly), von dem sie auch das Kind hat. Ein anderer betrifft das Verhältnis zur Mutter Odile (Salimata Kamate). Beides ist mit Schwierigkeiten verbunden, Saint Omer handelt viel von Entfremdung und Verstecken. So sollte Laurence beispielsweise ihre afrikanischen Wurzeln hinter sich lassen, durfte daheim nur Französisch reden. Dumontet wiederum verriet niemandem, dass er mit der Studentin zusammen war. Auch von dem Kind wusste niemand. Aber ging das von ihm aus oder von Laurence, wie er behauptet? Wie sah sie sich selbst innerhalb der Beziehung?

Diop zeigt dabei Widersprüchlichkeiten auf, aber auch, wie sehr Menschen durch ein Umfeld definiert werden. Das kann ein direkter Einfluss sein oder auch Erwartungen. Wenn irgendwann eine Zeugin vorwirft, Laurence hätte statt Wittgenstein lieber jemanden studieren sollen, der ihrem kulturellen Umfeld entstammt und damit näher ist, ist das leicht als plumper Rassismus abzutun. Aber es passt doch auch zu dem Bild einer jungen Frau, die so sehr nach ihrer Rolle suchte, bis sie am Ende gar nichts mehr wusste. Das Drama, das bei den Filmfestspielen von Venedig 2022 Premiere feierte, beschäftigt sich viel mit Identität und zeigt dies als wechselseitiges Spiel. An dieser Stelle kommt auch Rama hinzu, die von der Geschichte wiederum beeinflusst wird. Die Professorin tritt als Alter Ego von Diop selbst auf, die 2016 bei dem Prozess gegen Fabienne Kabou im Publikum saß – die Inspiration für Saint Omer. Mit den üblichen True-Crime-Geschichten hat das hier dennoch nur wenig gemeinsam. Das Drama ist ruhig, zurückhaltend und präzise beobachtend, ohne dabei dem Publikum das Ergebnis mitzugeben. Dieses ist aufgefordert, sich eigene Gedanken zu machen: Die Annäherung an ein Phantom und eine unerklärliche Tat wird gleichzeitig zu einem Spiegel, dessen Bild sich mit jedem Zuschauer und jeder Zuschauerin verändert.

Credits

OT: „Saint Omer“
Land: Frankreich
Jahr: 2022
Regie: Alice Diop
Drehbuch: Alice Diop, Amrita David, Marie NDiaye
Kamera: Claire Mathon
Besetzung: Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville, Aurélia Petit, Xavier Maly, Salimata Kamate

Bilder

Trailer

Filmpreise

Preis Jahr Kategorie Ergebnis
César 2023 Bester Debütfilm Sieg
Europäischer Filmpreis 2022 Beste Regie Alice Diop Nominiert

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fazit
„Saint Omer“ ist formal zwar ein Gerichtsdrama, bei dem es um die Schuldfrage einer jungen Frau geht, die ihr Kind getötet hat. Der Film gibt aber keine eindeutigen Antworten, sondern ist vielmehr eine vielschichtige Annäherung an das Thema Identität, über das man selbst viel nachdenken darf und soll.
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