Le lycéen Winter Boy Der Gymnasiast
Szenenbild aus dem Drama "Der Gymnasiast" des französischen Regisseurs Christophe Honoré (© Salzgeber & Co. Medien)

Christophe Honoré [Interview]

Regisseur Christophe Honoré (© Jean-Louis Fernandez)

In seinem autobiografisch gefärbten Drama Der Gymnasiast erzählt Christophe Honoré von einem Jugendlichen, der seinen Vater verliert. Da die Familie mit der Situation überfordert ist, zieht der 17-jährige Lucas (Paul Kircher) erst einmal nach Paris zu seinem Bruder Quentin (Vincent Lacoste). Einfach ist das Zusammenleben der beiden nicht. Doch Lucas ist fest entschlossen, seine Zeit in der großen Stadt zu genießen, entdeckt dabei die große Liebe und auch sich, während er gleichzeitig mit dem schmerzhaften Verlust zu kämpfen hat. Anlässlich des Kinostarts am 30. März 2023 haben wir uns mit dem Regisseur und Drehbuchautor über die Arbeit an dem Film unterhalten.

 

Könnten Sie uns etwas über die Entstehungsgeschichte Ihres Filmes erzählen? Wie kamen Sie auf die Idee hierfür?

Es ist immer schwieriger zu sagen, wie ein Film eigentlich angefangen hat. Ich habe bei anderen Regisseuren oft das Gefühl, dass sie lügen, wenn sie von einem ganz präzisen Ausgangspunkt sprechen. Dabei ist es eher so, dass sich ein Film dir aufdrängt. Eigentlich hätte Der Gymnasiast mein Erstlingsfilm sein müssen, wenn es rein nach der Chronologie geht, da ich hier von meiner Jugend erzähle. Zu dem Zeitpunkt war das aber noch zu schmerzlich. Deswegen habe ich erst einmal einige Jahre lang Erfahrungen gesammelt, bis ich mich diesem Thema stellen konnte. Dass ich letztendlich die Kraft gefunden habe, das doch noch anzugehen, geht auf eine Einladung der Comédie Française zurück, das Stück Guermantes von Proust zu inszenieren. Daraufhin habe ich das Buch Le Ciel de Nantes geschrieben und eben Der Gymnasiast gedreht, was jeweils Versuche waren, mich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Und wie war es für Sie, jetzt zu dieser Zeit und diesen Erinnerungen zurückzukehren?

Ich bin jetzt als Filmemacher erfahrener und besser, als ich es damals am Anfang meiner Karriere war. Das bedeutet auch, dass ich jetzt einschätzen kann, wozu ich als Regisseur in der Lage bin – und wozu nicht. Ich habe wie andere auch Rückschläge hinter mir, die mir geholfen haben, mich weiterzuentwickeln. Mir stehen jetzt ganz andere Mittel zur Verfügung, um meine Trauerarbeit auszudrücken.

Gibt es noch Themen, bei denen Sie sagen würden: „Das kann ich nicht, das ist mir zu persönlich“?

In Le Ciel de Nantes taucht eine Figur auf, die meinen Namen trägt und die Filme macht. In der Geschichte kommen verschiedene Familienmitglieder, die aus einem einfachen Arbeitermilieu kommen und eigentlich schon verstorben sind, zurück auf die Erde, um dem Protagonisten die Frage zu stellen, warum er keinen Film über sie gemacht hat. Ich hatte schon lang die Idee, dieses Projekt als Film umzusetzen und mich mit diesem Milieu auseinanderzusetzen, aus dem meine Familie kommt. Aber da waren immer die Zweifel und auch die Sorge, wie meine Familie vielleicht reagieren könnte. Erst durch die Arbeit an dem Theaterstück ist es zu einer Berufung für mich geworden, auch heikle familiäre Fragen zu beantworten.

In Der Gymnasiast spielen Sie die Rolle deines Vaters. Weshalb haben Sie sich dazu entschieden?

Es kam mir fast schon obszön vor, einen Schauspieler zu bitten, meinen eigenen Vater zu spielen. Ich bin einfach derjenige, der die größte Ähnlichkeit zu meinem Vater hat. Allein deshalb schon habe ich die Verpflichtung gespürt, das selbst zu spielen. Es gibt noch einen zweiten Grund, der eher emotional ist. Wenn man eigene Erfahrungen verfilmt, bringt das immer die Gefahr mit sich, dass die Bilder dieser Verfilmung die Bilder der eigenen Erinnerung überlagern oder diese sogar ersetzen. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass das letzte Bild, das ich von meinem Vater habe – die Fahrt zum Gymnasium –, durch ein anderes überlagert wird. Dafür ist es mir zu wichtig. In der Hinsicht unterscheidet sich für mich auch die Arbeit eines Autors und eines Filmemachers. Während ein Autor etwas erschafft und aufbaut, habe ich als Filmemacher immer das Gefühl, einen Teil von mir herzugeben.

In Ihrem Film beschreiben Sie, wie ein Mensch versucht, in einer chaotischen Welt einen Sinn zu finden. Kann die Beschäftigung mit dem Thema helfen, im eigenen Leben einen Sinn zu finden?

Ein Film ist für mich niemals therapeutisch. Das ist in meinen Augen ein bloßes Klischee. Aber es stimmt, dass der Protagonist nach einem Sinn sucht für etwas, das für ihn unfassbar ist. Dabei ist es unmöglich, in einer solchen Situation einen Sinn zu finden und sich erklären zu können, warum da etwas geschieht. Das ist selbst in den Wochen und Monaten danach noch unmöglich. Um dich zurechtzufinden, brauchst du erst Abstand, vielleicht auch mehr Erfahrung. Wenn der Tod in unser Leben tritt, macht uns das buchstäblich verrückt. Zwar sind wir noch immer in unserer gewohnten Umgebung und es ist alles gleich. Wir essen, schlafen und trinken, so als hätte sich nichts verändert. Und doch stellt der Tod alles in Frage, was für uns vorher Sinn ergeben hat. Das, was uns so vertraut war, kommt uns auf einmal völlig fremd vor. Deswegen müssen wir nach einem solchen Ereignis den Sinn erst neu finden. Dafür braucht es Geduld. Etwas, das unsere Hauptfigur nicht hat. Lucas ist ungeduldig und stur, will sofort alles verstehen und eine Antwort bekommen.

Dann noch kurz zu Lucas: Wonach haben Sie gesucht, als Sie diese Rolle besetzt haben?

Der Casting-Prozess war bei Der Gymnasiast sehr lang und ich habe den Produzenten gebeten, schon während der Arbeit an dem Drehbuch nach einem Schauspieler zu suchen. Mir war es wichtig, dass der Film wirklich in der Gegenwart spielt und die Geschichte eines jungen Menschen erzählt, der im hier und jetzt lebt, anstatt ein Zeitporträt aus den 1980ern zu machen. Deswegen war es mir wichtig, beim Schreiben des Drehbuchs viel mit jungen Menschen zu tun zu haben und einfließen zu lassen, wie sie heute sprechen. Da wollte ich mir auch wirklich die Zeit lassen. Beim Casting haben sich bestimmt 200 bis 300 junge Männer vorgestellt. Der Kreis wurde dann immer kleiner, erst 50, dann zehn. Am Ende haben wir uns für Paul Kircher entschieden. Ich habe schnell festgestellt, dass ich gut mit ihm kommunizieren kann. Welches Glück wir mit der Besetzung hatten, habe ich aber erst beim Dreh selbst gemerkt. Paul ist für mich eine absolute Entdeckung für das französische Kino, von der wir bestimmt noch viel hören werden. Er hat eine Freiheit und Entspanntheit in seinem Spiel, die mich sehr beeindruckt haben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Christophe Honoré wurde am 10. April 1970 in Carhaix-Plouguer, Frankreich geboren. Er studierte moderne Literatur an der Universität Rennes 2 und besuchte eine Filmschule in Rennes. 1995 zog er nach Paris, wo er für mehrere Magazine arbeitete. In seinen Anfangsjahren schrieb er mehrere Jugendbücher und Theaterstücke. Sein Langfilmdebüt als Regisseur gab er 2002 mit Dix sept fois Cécile Cassard. Zuletzt liefen bei uns seine Filme Sorry Angel (2018) und Zimmer 212 – In einer magischen Nacht (2019) im Kino.



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