Bloody Oranges

Bloody Oranges

Inhalt / Kritik

Nach außen hin sind Laurence und Olivier (Lorella Cravotta und Olivier Saladin) ein glückliches Pärchen, was das Alter und die Rente nutzt, um noch einmal richtig Spaß zu haben. Besonders das Tanzen und der Rock ‘n‘ Roll haben es den beiden angetan, die das sogleich in ihrer kleinen Gemeinde, einem Vorort von Paris, unter Beweis stellen wollen, als sie an einem Turnier teilnehmen, dessen erster Platz ein nagelneuer SUV ist. Während ihr Sohn Alexandre (Alexandre Steiger) in erster Linie an seine Karriere als Anwalt denkt und wie peinlich ihm das jugendliche Getue seiner Eltern ist, weiß er doch nichts von den enormen Schulden seiner Eltern, die bereits geplant haben, den Hauptpreis des Turniers zu verkaufen, um zumindest einen Teilbetrag an die Bank zahlen zu können. Da sie ihren Sohn, wie auch den Rest der Familie, nicht belasten wollen mit ihren Problemen, entgeht Alexandre das eigentliche Problem seiner Eltern, da er sich zudem versucht, in der Politik einen Namen zu machen, insbesondere im Finanzministerium, welches gerade in einer ganz anderen Krise steckt.

Die sozialen Unruhen im Land, die nach einer gerechten Verteilung von Jobs, Geld und Wohnungen verlangen, versetzen das Ministerium unter Minister Stéphane Lemarchand (Christophe Paou) in helle Aufregung. Für den Politiker ist die Diskussion um seine Person mehr als peinlich, hat doch eine Journalistin die Spur aufgenommen zu einem geheimen Konto in Übersee des Ministers. Ganz woanders in Paris betritt die 16-jährige Louise (Lilith Grasmug) die Praxis ihrer Gynäkologin, weil sie dringende Fragen zum Thema Sex hat und noch Jungfrau ist. Der Abend hält aber noch eine ganz andere Überraschung für die junge Frau bereit, denn auf ihrem Nachhauseweg kreuzen sich ihre Wege mit denen eines verrückten Killers.

Das Dilemma der Freiheit

Wie schon in seinem Werk Apnée geht es dem französischen Regisseur Jean-Christophe Meurisse auch in seinem zweiten Film Bloody Oranges, der aktuell auf den Filmfestspielen in Cannes zu sehen ist, um seine Heimat, genauer gesagt, um die sozialen Strukturen Frankreichs. Vor allem die Gelbwestenbewegung, insbesondere deren Forderungen nach einem höheren Mindestlohn und einer Anhebung der Renten machte deutlich, welche gesellschaftliche Ungleichheit im Lande herrscht und wie weit die Distanz zwischen Politik und Volk wirklich ist. In Bloody Oranges erzählt Meurisse von verschiedenen Schicksalen und damit verschiedenen sozialen Klassen, Geschlechtern wie auch Altersstufen und wie diese sich in einem immer chaotischer und ungerechter werdenden Land zurechtfinden.

Dem Zuschauer erschließt sich vielleicht nicht sofort die Verbindung zwischen den einzelnen Episoden wie auch den Figuren, welche die Handlung von Bloody Oranges ausmachen, doch eines ist ihnen gewiss gleich: eine wachsende Diskrepanz zwischen der Fassade, die sich aufrechterhalten wollen, und der teils niederschmetternden Realität, mit der sie jeden Tag konfrontiert werden. Darüber hinaus ist es das Dilemma einer liberalen Gesellschaft, was die Charaktere quält, ein wachsender Druck in der Entscheidungsfindung, den ein 16-jähriger Teenager ebenso spürt wie ein 60-jähriger Rentner, wenn auch auf andere Weise. Schon die anfängliche, schnell ausartende Diskussion der Jury des Tanzwettbewerbs, an dem Laurence und Olivier teilnehmen, zeigt den fehlenden Fokus einer Gesellschaft, die sich auf Etiketten und Mikromanagement spezialisiert hat und darüber das Auge fürs Wesentlich verliert. In dem von Meurisse mitgeschrieben Drehbuch zeigen sich in solchen Szenen die Herkunft des Regisseurs vom Theater, der nicht nur ein besonderes Gefühl für Timing und Stimmung hat, sondern auch die Situation durch feine Spitzen und Missverständnisse immer mehr eskalieren lässt.

Ein Flirt mit der Barbarei

Generell flirten die Figuren in Bloody Oranges mit der Barbarei, der Verdorbenheit und der Korruption, ohne dabei zu merken, wie absurd sie sich dadurch für ihr Umfeld machen. Eine Diskussion über das Fehlen einer Speisekarte im Restaurant artet ähnlich aus wie die Begegnung mit einem Taxifahrer, der sich deutlich im Ton vergriffen hat. Innerhalb der Dramaturgie von Meurisse ist alleine der Mörder die Figur, die wirkliche Freiheit genießt, braucht dieser sich doch nicht verstellen und kann seinem blutigen Handwerk ohne Angst nachgehen. Nur die Wahrheit macht wirklich frei, was einem Zugeständnis zu jenen dunklen Trieben in einem selbst nahekommt.

Mit Geschichten, die immer mehr an Bodenhaftung verlieren und immer weiter eskalieren, entlarvt Meurisse immer wieder den Egoismus der Figuren wie auch einer ganzen gesellschaftlichen Schicht, die von Gerechtigkeit spricht, damit aber nur sich selbst meint.

Credits

OT: „Oranges sanguines“
Land: Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Jean-Christophe Meurisse
Drehbuch: Yohann Gloaguen, Jean-Christophe Meurisse, Améöie Philippe
Kamera: Javier Ruiz Gomez
Besetzung: Denis Podalydès, Christophe Paou, Guilaine Londez, Lorella Cravotta, Lilith Grasmug, Alexandre Steiger, Vincent Dedienne, Olivier Saladin, Lorella Cravotin

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"Bloody Oranges" ist eine Gesellschaftssatire, die sich besonders durch ihre geschliffenen Dialoge und Szenen auszeichnet. Jean-Christophe Meurisse gelingt ein äußerst giftiges Bild seiner Heimat und deren sozialer Ungerechtigkeit, was einem Spiegelbild gleichkommt, das vielleicht ironisch übertrieben, deswegen aber nicht weniger relevant ist.
6
von 10