Nationalstraße
© Jan Hromadko

Nationalstraße

Kritik

Nationalstraße
„Nationalstraße“ // Deutschland-Start: 11. Juni 2020 (Kino)

Vandam (Hynek Cermak) ist niemand, der lange fackelt oder auch die Samthandschuhe anzieht. Wenn er zuschlägt, dann richtig. Und dazu gibt es derzeit einen mehr als guten Grund: Seine Lieblingskneipe soll dichtgemacht werden, einfach so, aufgekauft von irgendeinem dahergelaufenen Schnösel. Da kann Vandam natürlich nicht einfach tatenlos zusehen, zumal die Kneipe auch noch seiner heimlichen Liebe Lucka (Katerina Jandácková) gehört. Und wer sich mit ihr anlegt, der bekommt es mit ihm zu tun. Zur Rettung seines Reviers setzt er dann auch alles ein, was er hat, selbst das, was er nicht hat. Dabei ahnt er nicht, dass die Entscheidung längst gefallen ist und er einen aussichtslosen Kampf verfolgt …

Sich von der eigenen Vergangenheit verabschieden zu müssen, etwas aufzugeben, das einem wichtig war, das ist nie ganz einfach. Das betrifft gerne dann auch Objekte, die als Symbol für die Vergangenheit stehen. Umfangreiche Plattensammlungen, für die es heute keinen Platz mehr gibt, vielleicht das erste Auto, das man hatte, oder auch Klamotten, die einem längst nicht mehr passen oder man ohnehin nie wieder anziehen würde, die aber etwas auslösen, irgendwo zwischen Nostalgie und Wehmut. Einfach so wegwerfen? Meine Vergangenheit wegwerfen? Das geht doch nicht! Zu sehr sind die Gefühle damit verbunden, selbst wenn es objektiv gesehen vielleicht keinen Grund dafür gibt.

Ein heruntergekommener Ort als letzte Zuflucht
Vandams Kneipe ist so ein Objekt, das auf den ersten Blick wenig Anlass liefert, ihm hinterherweinen zu wollen. Die Schänke ist ein bisschen schäbig, in die Jahre gekommen, die Menschen sind es auch. Hier wird es zwar vielleicht manchmal etwas lauter, gerade auch, wenn das eine oder andere Bier zu viel getrunken wurde. Aber von einer tatsächlich ausgelassenen Stimmung kann man kaum reden. Ein Ort, an dem die Leute tatsächlich aufleben, der sieht wohl anders aus. Vielmehr ist das hier einer der letzten Orte, an dem sich die immergleichen Stammgäste, alle männlich, noch treffen können, um von einem früher zu träumen, das es nicht mehr gibt, das es vielleicht auch nie gegeben hat.

Basierend auf dem Roman von Jaroslav Rudis (Alois Nebel) erzählt Štěpán Altrichter hier deshalb die inzwischen bekannte Geschichte der Abgehängten, zeigt uns Leute, die es in einer sich wandelnden Welt irgendwie nicht mehr braucht. Und er erzählt von einem Thema, das das zwar immer lokal ist, aber zu einem globalen Phänomen geworden ist: die Gentrifizierung. Wer das Geld hat, kauft sich seine Heimat einfach zusammen, der Rest soll sehen, wo er bleibt. Zuletzt haben eine Reihe von Filmen dieses Phänomen aufgegriffen, mal auf eine humorvolle Weise (Die Känguru-Chroniken), mal als verzweifelten Abwehrkampf (Der letzte Mieter). In Nationalstraße ist es irgendwie beides.

Der Kampf eines hilflosen Tieres
Schon der Name der Figur wandelt an dieser Grenze, wenn sich Vandam nach dem belgischen Kampf- und Kinostar Jean-Claude van Damme benannt hat, sein großes Vorbild. Völlig unironisch. Dafür wird bei der Art und Weise, wie Vandam vorgestellt und in seinem natürlichen Lebensraum gezeigt wird, durchaus auf Ironie zurückgegriffen. An manchen Stellen ist Nationalstraße sogar fast schon witzig – wenn die Begleitumstände nicht so traurig wären. Vandam wird hier zu einem wild um sich beißenden Tier, das nicht einmal realisiert, gegen wen es kämpft oder warum der Kampf aussichtslos ist. Das umso wütender wird, je mehr ihm die eigene Aussichtslosigkeit und Hilflosigkeit dämmert.

Altrichter wagt bei der Umsetzung der Geschichte auch eine nicht ganz einfache Gratwanderung: Vandam ist Opfer und Täter zugleich, eine gescheiterte, machtlose Existenz, die sich mit aller Gewalt aufplustert und damit gleichermaßen abstoßend wie bemitleidenswert wird. Man muss ihn nicht mögen, den homophoben, fremdenfeindlichen Glatzkopf, der auch nur die Möglichkeit als persönliche Beleidigung ansieht, dass die Welt eine andere sein könnte, als ihm beigebracht wurde. Nationalstraße macht sich aber nicht über ihn lustig, sondern zeigt ihn als tragische Figur, als eine von vielen, verloren und der eigenen Bedeutung beraubt. Dies zu verstehen, ihn zu verstehen, das bedeutet auch, sich einem anderen Phänomen anzunähern, dem der Abgehängten, der Deplorables, die auf dem Weg ins Nichts noch möglichst viel kaputtschlagen wollen. Denen eben doch nur die Symbole von früher geblieben sind, Relikte der Vergangenheit, die zu einer Sackgasse geworden sind, in der es kein weiter gibt – aber eben auch kein zurück.

Credits

OT: „Národní trída“
Land: Deutschland, Tschechische Republik
Jahr: 2019
Regie: Štěpán Altrichter
Drehbuch: Štěpán Altrichter
Vorlage: Jaroslav Rudiš
Musik: Reentko Dirks, Clemens Christian Poetzsch
Kamera: Cristian Pirjol
Besetzung: Hynek Čermák, Jan Cina, Kateřina Janečková, Václav Neužil

Bilder

Trailer

Filmfeste

FilmFestival Cottbus 2019
Max Ophüls Preis 2020

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„Nationalstraße“ erzählt von einem Bewohner einer Neubau-Siedlung, der sich mit aller Macht dem Ende seiner Lieblingskneipe entgegenstellt. Das ist anfangs eher komisch, wird aber zunehmend tragischer und düsterer. Und auch die Hauptfigur bleibt ambivalent, ist einerseits abstoßender Schläger, gleichzeitig aber Symbol einer abgehängten Gesellschaft, für die es keinen Platz mehr gibt, so sehr sie auch dagegen ankämpft.
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von 10