Jeder schreibt für sich allein
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Jeder schreibt für sich allein

„Jeder schreibt für sich allein“ // Deutschland-Start: 24. August 2023 (Kino) // 18. Januar 2024 (DVD)

Inhalt/Kritik

Wer entsprechende literarische Vorkenntnisse mitbringt, wird im Titel der neuen Dokumentation Jeder schreibt für sich allein von Dominik Graf bereits eine Paraphrasierung des Buchtitels Jeder stirbt für sich allein von Hans Fallada erahnen. Tatsächlich ist Fallada auch einer der behandelten Autoren hier. Nach Erich Kästner und Gottfried Benn wird ihm wohl die meiste Zeit eingeräumt. Anders, als es der Titel jedoch vielleicht suggerieren könnte, beschäftigt sich die Doku nicht mit dem Schreibprozess der einzelnen Autoren – das passiert höchstens einmal als Nebenprodukt.

Allerdings sollten wir uns erst einmal dem Stichwort Zeit zuwenden. Knapp 170 Minuten müssen für die Sichtung eingeplant werden, das ist schon nicht so wenig. Das eher trockene Thema wird zwischendurch ein wenig aufgelockert. So besuchen wir etwa ein Hotel in der Nähe von Marseille, in welchem Klaus Mann einmal residierte. Warum? Na ja, so einen richtigen Grund gibt es dafür eigentlich nicht, außer eben dass es sich um eine kleine interessante Exkursion handelt. Das Beschreiten solcher Abzweigungen bleibt jedoch auch die Ausnahme. Wohlgemerkt: Was dabei über Mann und Benn erzählt wird, gehört durchaus schon zum Thema. Nur verzichtet die Doku ansonsten eben überwiegend auf Ortsbegehungen, zumindest in dieser Form.

Regt zum Nachdenken an

Auch sonst gibt es formal ein paar merkwürdige Entscheidungen. Wenn die talking heads zur Kamera sprechen, ist das unterschiedlich festgehalten. Manchmal sehen wir zwei Perspektiven davon (eine zeigt die entsprechende Person von vorne, die andere zeitgleich von der Seite), welche beide zusammen nicht den ganzen Bildschirm ausfüllen, sodass einiges der Fläche schwarz bleibt. Manchmal ist es nur eine Perspektive, welche jedoch ebenfalls von Schwärze umgeben ist. Deckungsgleich ist die Position der Bilder dabei zwischen zwei Personen oder selbst wenn eine schon einmal gezeigte Person erneut vorspricht nicht. Öfter werden Texte aus dem Off vorgetragen, gegen Ende gibt es dabei einmal eine seltsame Überlappung mit dem live aufgenommenen Ton der gezeigten Szene, was nicht danach wirkt, als wäre das Absicht gewesen.

Doch zum Inhalt. In Jeder schreibt für sich allein führt Anatol Regnier, Enkel von Frank Wedekind und Autor des gleichnamigen Sachbuches, durch die verkürzten Biographien verschiedener Schriftsteller, welche zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geblieben sind. Das ist, auch dank der gelegentlichen Langatmigkeit, wahrscheinlich vor allem für Germanisten und Historiker interessant. Aber auch Laien können hier ruhig einschalten und ihren Horizont erweitern. Es handelt sich nicht einfach nur um einen Vortrag von Fakten, einen Abriss der Ereignisse. Die Dokumentation regt zum Nachdenken an, wirft Fragen auf, mit denen sich der Zuschauer allein oder im Freundeskreis beschäftigen kann.

Angriff auf die Kunst

Das Schlimmste, was Adolf Hitler neben dem offensichtlichen Gräuel getan hat, war in die Kunst einzugreifen. Das verblasst im Vergleich zu seinen sonstigen Schandtaten natürlich komplett, ist aber dennoch nicht ohne Spuren geblieben. Der deutsche Film etwa hat sich bis heute nicht richtig von der Flucht erfolgreicher Filmemacher nach Hollywood erholt, wobei Hitler und insbesondere Joseph Goebbels ein starkes Interesse daran hatten, hiesige Regisseure mit den für die Öffentlichkeit verbotenen amerikanischen Werken zu versorgen, damit diese davon lernen könnten. Nun flohen nicht nur Filmemacher, sondern Künstler aller Cooleur, eben auch Autoren. Andere blieben. Heinz Rühmann (Das Narrenschiff) etwa, der 1944 auf die Gottbegnadeten-Liste gesetzt wurde, aus Sicht der Nazi-Herrscher also als Künstler besonders wichtig und zu schützen war. Nicht jeder – genauer gesagt fast keiner –, der blieb, war aber Nazi oder sympathisierte auch nur mit dem Regime.

Es blieben aber auch die in Jeder schreibt für sich allein vorgestellten Autoren. Das taten sie aus unterschiedlichen Gründen, und abgesehen von Benn wohl keiner, weil er mit der Ideologie irgendetwas anfangen konnte (wobei die Doku Benn etwas zu einseitig betrachtet). Generell gilt: Der Künstler ist immer vom Kunstwerk zu trennen. Ein Kunstwerk zu genießen, heißt nicht, alles gutzuheißen, was der Künstler sagt oder tut. Angesichts des vor allem im Westen verbreiteten Personenkults fällt diese Trennung vielen Leuten aber schwer. Was hingegen leicht ist, ist heute bequem daheim zu sitzen und zu sagen: „Also ICH wäre direkt in den Reichstag marschiert und hätte Hitler jedes Schnurrbarthaar einzeln ausgerissen.“ Die Realität sieht aber anders aus. Es steht uns nicht zu, diejenigen zu verurteilen, die damals aus Angst um ihre Existenz oder die ihrer Lieben nicht so gehandelt haben, wie es moralisch betrachtet vielleicht angemessen wäre.

Credits

OT: „Jeder schreibt für sich allein“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Dominik Graf, Felix von Boehm
Drehbuch: Anatol Regnier, Dominik Graf, Constantin Lieb
Vorlage:
Anatol Regnier
Kamera: Sven Jakob-Engelmann, Florian Mag, Niclas Reed Middleton, Pierre Nativel, Markus Schindler

Bilder

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Jeder schreibt für sich allein
Fazit
"Jeder schreibt für sich allein" beschäftigt sich mit verschiedenen Autoren, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geblieben sind, statt wie ihre Kollegen zu fliehen. Das ist vor allem für Germanisten und Historiker geeignet, vermag aber trotz zeitweiliger Langatmigkeit auch für Laien interessant zu sein. Formal etwas schwach auf der Brust regt die Dokumentation zu Diskussionen an.
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