Asli Özge
Aslı Özge bei der Premiere von "Black Box" beim Filmfest München 2023 (© Filmfest München / Ronny Heine)

Aslı Özge [Interview ]

Die türkische Regisseurin Aslı Özge wurde hierzulande durch ihr Kinodebüt Men on the Bridge (2009) bekannt. In Black Box (Kinostart: 10. August 2023), ihrer neuesten Arbeit, erzählt sie von einem Berliner Hinterhof, in den plötzlich der Verwalter einen gläsernen Container als sein Büro stellen lässt. Von hier aus dirigiert er die Veränderungen, die den Bewohnern des Hinterhauses bevorstehen: Luxussanierungen, Kündigungen, Umwandlung in Eigentumswohnungen. Aber vorher lässt er erst einmal den kompletten Hof von einem massiven Polizei- Aufgebot absperren. Keiner kommt mehr rein oder raus. Den Grund dafür erfahren die Bewohner zunächst nicht. In der Drucksituation einer Art Quarantäne macht sich die Angst breit, seine Wohnung zu verlieren. Aber auch die Vorurteile gegen zwei ausländische Mitbewohner wachsen. Das Gerücht macht die Runde, sie gehörten einer Terrorzelle an. Auf dem Filmfest München, wo der Film Premiere feierte, sprachen wir mit Aslı Özge über Rechtspopulismus, die Tricks der Mächtigen und die Schwächen der politischen Linken.

Wie kamst du auf die Idee zu dem Film? Gab es vielleicht eine Gentrifizierung in deiner Nachbarschaft?

Gentrifizierung ist für mich nicht das Hauptthema des Films. Es ist für mich ein Mittel, um etwas anderes zu erzählen. Mein Thema ist: Was bedeutet es, Macht zu haben? Wie gehen Menschen, die Macht haben, mit uns um? Ich bin inspiriert von der Politik. In ganz Europa geht die politische Richtung nach rechts. Wir schauen uns im Fernsehen Machtmenschen wie Trump an und denken, das ist weit weg von uns. Das stimmt aber nicht. Wir integrieren das, was wir dort vielleicht unbewusst lernen, in unser alltägliches Leben. Aber wir reden nicht darüber. Es gibt junge Menschen, die sind mit jemandem wie Putin aufgewachsen, die kennen gar nichts anderes. Natürlich hat das eine Wirkung auf uns. Darüber wollte ich reden, aber auch einen Schritt weiter gehen und konkret über das Thema Lügen sprechen. Durch Trump sind Lügen salonfähig geworden. Wir wissen, er lügt, aber wir gehen darüber hinweg und finden es normal.

Die Leute in diesem Hinterhof werden eingesperrt, wie in der Pandemie. Hat die Erfahrung der Pandemie eine Rolle gespielt beim Drehbuchschreiben?

Ich habe das Drehbuch vor der Pandemie fertiggestellt. Das war seltsam, denn alle dachten, ich sei von der Pandemie inspiriert. Aber die Pandemie war von meinen Drehbuch inspiriert (lacht). Als ich es geschrieben habe, war das eine Art Dystopie. Leute sagten mir, so eine Art von Ausnahmezustand würde in Deutschland nicht passieren. Und plötzlich war das ganz real. Natürlich habe ich mir das Drehbuch danach nochmal angeschaut und bestimmte Dinge überprüft, aber eigentlich war es vor der Pandemie fertig.

Spiegelt der Hinterhof also im Kleinen, was in der Gesellschaft als ganzer passiert?

Der Hof ist eine Metapher für ein Land. Es gibt den Machtmenschen, der alles regiert. Es gibt Mitbewohner, die politisch links stehen, andere stehen rechts und so weiter. Es wohnen dort auch Ausländer. Alles, was wir heute in unserem Land erleben, spiegelt sich in der kleinen Gemeinschaft dieses Hofs.

Wie siehst du unsere Gesellschaft im Moment?

Aktuell macht es mir natürlich Sorge, wenn ich lese, dass die AfD in den Umfragen höher und höher steigt. Aber es ist nirgendwo einfach, Ausländer zu sein. Ich bin nach Deutschland gekommen, als ich 24 Jahre alt war. Ich hatte hier keine Verwandten, musste hier Deutsch lernen und habe viel durchgemacht mit Ausländerbehörden und Visa-Anträgen. Selbstverständlich spielen meine persönlichen Erfahrungen auch eine Rolle in dem Film. Doch in erster Linie wollte ich von der versteckten Mentalität erzählen, mit der manche Leute auf Ausländer schauen. Zum Beispiel gibt es eine Figur namens Madonna, aber das ist nicht ihr wirklicher Name. Weil sie den Namen Madonna benutzt, bekommt sie mehr Sympathie von ihren deutschen Mitbewohnern, als wenn sie ihren wirklichen Namen sagen würde. Das sind so kleine Dinge, die mich sehr interessiert haben: Wie spiegelt sich eine bestimmte Mentalität im Alltag.

Dein Film ist eine Art sozialpsychologisches Experiment: Was passiert, wenn man die Nachbarschaft eines Hinterhofs unter Druck setzt? Bei einer solchen Versuchsanordnung läuft man Gefahr, das Gefüge der Menschen so distanziert zu schildern wie ein Fliegenforscher. Aber in deinem Film ist das nicht der Fall. Hier lebt man mit den Figuren mit. Wie hast du es geschafft, sie so zu zeichnen, dass man sich mit ihnen identifizieren kann?

Mich hat die Ambiguität der Figuren interessiert. Wir sind ja nicht schwarz oder weiß, sondern etwas dazwischen. In allen meinen Filmen geht es darum, sich im Dazwischen aufzuhalten. Es endet eine Ära und es beginnt eine neue. Oft erzähle ich vom Umziehen: Man sucht einen neuen Platz für sich selbst und man entwickelt dabei neue Eigenschaften und ein Stück weit verändert sich die Identität. Im Film ist der Hausverwalter der, der die Fäden in der Hand hält. Er hat Macht und muss eigentlich gar nicht viel tun, um sie auszuüben. Er muss nur bei den unterschiedlichen Menschen die richtigen Knöpfe drücken und dann schauen, was passiert. Das ist eigentlich das Experiment. Manchmal reicht es, ein Klima der Angst und der Unsicherheit zu schaffen: Was wird mit uns, müssen wir ausziehen, können wir uns die Wohnung noch leisten, wenn sie saniert ist? Das reicht, um die Menschen aufeinander zu hetzen. Diese Tricks hat er sich von den rechtspopulistischen Politikern super gut abgeschaut.

Es ist ein Ensemblefilm mit vielen Personen. Was war die größte Schwierigkeit dabei, alle Figuren unter einen Hut zu bringen?

Das war genau die Schwierigkeit (lacht). Ich kann nicht auf jede Figur ausführlich eingehen. Trotzdem war es mir sehr wichtig, bei jeder Figur die Gründe zu verstehen, warum sie auf eine bestimmte Weise handelt. Ich muss jedem Charakter nahe sein, aber ich habe nicht so viel Zeit für ihn, als wenn ich 90 Minuten nur von zwei oder drei Leuten erzählen würde. Mein Koproduzent Jean-Pierre Dardenne sagte mir: Du musst dir das wie eine Symphonie vorstellen. Du hast eine großes Ensemble und musst es dirigieren, sodass mal der eine und mal der andere seinen Einsatz bekommt und sie so zusammenspielen, dass sich ein einziger harmonischer Klang ergibt.

Auch die Nebenfiguren sind mit bekannten Schauspielern besetzt. Hanns Zischler zum Beispiel hat nur einen kleinen Auftritt, auch Anna Brüggemann ist nur in wenigen Einstellungen zu sehen. Warum war es dir wichtig, auch solche kleinen Rollen mit sehr erfahrenen Darstellern zu besetzen?

Hanns Zischler hat in meinem vorigen Film Auf einmal eine größere Rolle gespielt. Es bringt mir immer Glück, wenn er mitspielt (lacht). Deshalb wollte ich keinen Film ohne ihn drehen. Ich bin sehr froh, dass er akzeptiert hat, hier nur eine sehr kleine Rolle zu spielen. Ich finde es einfach toll, wenn an der Tür im Vorderhaus geklingelt wird und dahinter erscheint auf einmal Hanns Zischler. Christian Berkel sagt zu ihm, wir müssen solidarisch sein und Hanns Zischler fragt: So, denken Sie, das klappt? Diesen einen Satz kann niemand mit diesem skeptischen Unterton besser sagen als er. Dasselbe gilt für Anna Brüggemann. Sie erschafft mit ganz wenig Leinwandzeit einen Charakter. Wenn man solche kleinen Rollen falsch besetzt, wird der Film niemals glaubwürdig sein. Selbst wenn man Darsteller hat, die gar nichts zur Handlung beitragen, sondern nur im Hintergrund telefonierend durch den Hof gehen, dann muss das stimmen. Wenn man den Eindruck bekommen würde, die tun nur so, als ob sie telefonieren, dann ist alles umsonst, was wir gemacht haben.

Dann gibt es noch die Figur der Henrike, gespielt von Luise Heyer, die man zwar nicht Hauptfigur nennen kann, die aber doch ein bisschen hervorgehoben ist. Hattest du das Gefühl, so jemanden zu brauchen?

Sie ist die einzige, die ihre Haltung überdenkt. Das war mir wichtig. Sie ist ein Charakter, der einen dringenden Termin hat und deswegen aus dem Hof rausgehen will. Aber sie wird daran gehindert und muss drin bleiben. Und dann ist sie wirklich voll drin und nimmt an sämtlichen Konflikten teil. Das Geschehen zwingt sie, auf ihr eigenes Leben zu blicken, auf ihre Ehe und auf ihre Rolle in den Konflikten. Das Nachdenken über sich bringt sie dazu, ihre Haltung zu überdenken. Weil ich nicht genug Zeit habe, eine solche Entwicklung für jede Figur zu erzählen, habe ich sie von Anfang an dafür ausgewählt.

Außerdem gibt es den links eingestellten Lehrer. Er ist der einzige, der die Mechanismen der Macht durchschaut, also das Prinzip teile und herrsche. Warum hat er mit seinem Bemühen um Solidarität keinen Erfolg?

Das frage ich mich nach politischen Wahlen auch immer (lacht). Die Konservativen gewinnen und die Linken schwächeln. Hier im Film habe ich einen Linken, der Lehrer ist und ein paar negative Eigenschaften hat, zum Beispiel, dass er viel zu viel redet. Obwohl er die ganze Zeit die Wahrheit sagt, verkörpert er die Schwäche der Linken. Aber es ist auch so, dass ihm die anderen deswegen nicht folgen, weil sie selbst nur an ihre eigenen Vorteile denken und egoistisch handeln. Sie denken, vielleicht ist es besser, die Wohnung nicht zu verlieren, als sich mit ihm zu solidarisieren und damit den Verwalter zu ärgern. Sie denken kurzfristig, so wie wir alle. Wenn man fünf Jahre vorausblickt, wäre es vielleicht besser, der Position des Lehrers zu folgen. Aber daran denkt man in dem Moment nicht. Das ist ein bisschen die menschliche Natur. Man weiß, was man tun sollte, handelt aber trotzdem anders.

Das Maß an versteckter Ausländerfeindlichkeit, das du beschreibst, ist erschreckend. Spürst du das auch persönlich, wenn du in Berlin durch die Straßen gehst? Hat sich das in den letzten Jahren zugespitzt?

Als Ausländer beschäftigt einen das immer. Wie ich vorhin am Beispiel von Madonna gesagt habe: Es sind kleine Dinge, die das Leben beeinflussen, zum Beispiel das Nichtbenutzen des eigenen Namens. Es passiert immer noch, dass man wegen seines Namens keinen Job bekommt. Ich habe von einer türkischen Filmemacherin gehört, für die es nicht so gut lief. Sie änderte ihren Namen in einen deutschen und nun kommt sie leicht an Gelder und Projekte heran. Das habe ich letzte Woche erfahren, also lange, nachdem ich das Drehbuch geschrieben habe. Das ist in Deutschland passiert, aber das gibt es auf der ganzen Welt. Mein Cousin ist nach Sydney gezogen und hat dort eine neue Arbeit gesucht. Er hat eine sehr gute Ausbildung, aber er hat ein halbes Jahr gar keine Rückmeldung auf seine Bewerbungen bekommen. Jemand sagte ihm, er solle seinen türkischen Namen ändern. Das hat er getan und plötzlich bekam er viele Jobangebote. Alles Fremde macht Angst.

Unsere Interviewzeit geht zu Ende. Deshalb eine letzte Frage: Gibt es neue Projekte?

Es gibt mehrere. Eines ist ein Gentrifikationsthema in Istanbul. Es geht um meinen Vater, der jetzt 95 Jahre alt ist und sein Haus verlassen musste. Ich habe lange mit ihm dokumentarisch gedreht, aber ich will es als Hybridfilm realisieren, mit Spielfilmelementen, aber in realer Umgebung, so wie mein Film Men on the Bridge. Damit bin ich in der Postproduktion.

Zur Person
Aslı Özge wurde in Istanbul geboren und lebt seit 2000 in Berlin. Nach ihrem Abschluss an der Marmara University Film TV Academy drehte sie ihr Spielfilmdebüt Men on the Bridge (2009), das auf den Filmfestivals von Locarno und Toronto seine internationale Premiere feierte und auf über vierzig Festivals gezeigt wurde. Der Film gewann zahlreiche Preise, unter anderem den Preis für den besten türkischen Film. Özges anschließende Filme Lebenslang (2013) und ihr erster deutschsprachiger Film Auf einmal (2016) wurden mit dem „Europa Cinemas“ Special-Label bei der Berlinale ausgezeichnet. Im Jahr 2020 inszenierte die Regisseurin für ZDF Neo in Belgien die Miniserie Dunkelstadt.



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