Holy Spider
Szenenbild aus Ali Abbasis "Holy Spider" (© Alamode Film)

Ali Abbasi [Interview]

2018 konnte Ali Abbasi mit seiner nordischen Folklore-Romanze Border die Auszeichnung Un certain regard in Cannes gewinnen und Publikum und Kritik weitestgehend überzeugen. In seinem neuen Film Holy Spider wendet sich der in Kopenhagen lebende Iraner seiner anderen Heimat zu. Holy Spider handelt von der Mordserie des sogenannten Spinnenmörders, der in den Jahren 2000 und 2001 16 Prostituierte in der iranischen Stadt Maschhad ermordet hat und dafür von einem großen Teil der Bevölkerung gefeiert wurde. Abbasi verarbeitet den Fall in einem Noir-Thriller, der dabei einen Rundumschlag gegen Regime und Gesellschaft macht. Was es bedeutet, ein solches Ereignis zu verfilmen, wie man einen Serienmörder schreibt, welche Bedeutung der Fall auch heute noch hat und mehr erzählt er im Interview. (Anmerkung: Das Interview wurde bereits im Oktober im Rahmen des Filmfest Hamburg geführt. Viele aktuelle Entwicklungen der Proteste im Iran, wie etwa die zahlreichen Hinrichtungen seit Dezember 2022, werden nicht thematisiert.)

In den Jahren 2000 und 2001 hat tatsächlich ein Mann namens Saeed Hanaei in Maschhad 16 Prostituierte ermordet. Wieso hast du dich dazu entschieden, dieses Ereignis zu verfilmen?

Die Mordserie ist einer der bekanntesten Kriminalfälle der letzten vielen Jahre im Iran. Mich hat er aber vor allem aufgrund seiner Komplexität so fasziniert. Der Fall bietet sich als Grundlage für so viel an. Der religiöse Kontext, der politische und wirtschaftliche Kontext, der Aspekt Frauenrechte und vor allem der gesellschaftliche Aspekt. Holy Spider ist ein Film über eine kaputte Gesellschaft, ein kaputtes Land. Und der Fall sowie dieser Kontext bieten sich sehr für einen Film-Noir an, ein Genre, das ich ausgesprochen schätze und unbedingt umsetzen wollte.

Im Trailer heißt es, dass der Film lediglich von den wahren Begebenheiten „inspiriert“ ist. Was hast du abgeändert und warum?

Ich habe mich an der Realität orientiert, weil ich denke, dass es dem Film eine gewisse Menge Integrität verleiht. Das war mir wichtig. Trotzdem habe ich nicht den Anspruch, den Fall, sofern das überhaupt möglich ist, faktisch nachzuerzählen und sage deshalb lieber, dass der Film von wahren Begebenheiten inspiriert ist. Dadurch hatten wir auch mehr Freiheiten. Beispielsweise hat die Journalistin, die als Vorbild für Rahini dient, nicht Undercover ermittelt. Sie hat recherchiert und dem Prozess beigewohnt, aber sie ist dem Mörder nicht begegnet. Außerdem haben wir einige Dinge, die einfach nicht vollständig bekannt sind, nach unseren Vorstellungen umgesetzt. Ein Beispiel dafür ist die Hinrichtung. Wie im Film, wurde der Hinrichtungsraum auch in echt verschlossen, sodass die anwesenden Leute die Hinrichtung nicht sehen konnten. Sie haben Saeed aber wohl panisch rufen hören „Das war nicht der Deal!“. Ob es wirklich einen Deal gab oder er sich das vor Stress, Angst oder im Wahn ausgemalt hat, wissen wir nicht.

War es für dich auch eine moralische Abwägung, sich einer echten Mordserie anzunehmen?

Das ist eine Frage, mit der ich mich während der Produktion oft konfrontiert gesehen habe. Ein gutes Beispiel dafür ist ein Meeting, das ich während der Vorproduktion in Berlin hatte. Zu dem Zeitpunkt war der Film Der Goldene Handschuh gerade herausgekommen und ich erinnere mich, dass mir vor dem Meeting ein Rat gegeben wurde. Ich solle Holy Spider nicht als Serienmörder-Film verkaufen, weil man eben wegen Der goldene Handschuh nicht gut auf Serienmörder-Filme zu sprechen sei. Ich verstehe, warum Leute sich über diesen Film empören. Der Film psychologisiert, im Gegensatz zu vielen anderen Filmen dieses Genres, seine Figuren nicht. Es gibt nur Ekel, Kälte und Brutalität. Das finde ich sehr mutig. Man sieht sich auf diese Weise mit der Kälte und Leere der Welt konfrontiert. Zwar haben wir einen etwas anderen Ansatz gewählt, aber auch wir wollten diese Kälte darstellen. Und ich glaube, dass der Bezug zur Realität dabei hilft. Wie schon gesagt, ich glaube, dass es dem Film Integrität verleiht.

Trotzdem psychologisiert ihr euren Täter sehr stark. Saeed ist mehr als ein stiller Fanatiker. Er ist auch ein riesiger Narzisst, dem die Aufmerksamkeit und seine Rolle als Märtyrer wahnsinnig gefällt. Wie kam es zur Umsetzung dieser Figur?

Ich habe mich zur Vorbereitung auf den Film mit dem Fall vertraut gemacht. Ich habe alles gelesen, was es dazu gibt, mit Leuten gesprochen, Dokus geguckt. Natürlich ist der Saeed im Film nicht der echte Saeed Hanaei. Es ist eine Figur, die ich mir anhand der Berichte geschaffen habe. Ich habe die Figur über die Fakten hinaus so fortgeführt, wie es mir logisch erschien. Ich weiß nicht, ob der echte Saeed seine Opfer vergewaltigt hat und ob er Probleme mit seiner unterdrückten Sexualität hatte. Die Figur aber schon. Und nachdem die Figur stand, haben wir ihn als Fixpunkt für den Film gesehen. Wir haben angefangen, die Gesellschaft und den Kontext um ihn herum zu ziehen. Eine Gesellschaft, die sich auch in echt um ihn herum vereinigt hat. Eine Gesellschaft, die einen Mann sieht, der 16 Menschen umbringt und ihm zujubelt.

Mit Rahini haben wir eine Figur, die aus dieser Masse stark heraussticht. Was war dir bei ihr wichtig?

Die Figur hat sich geändert, als Zar (gemeint ist Hauptdarstellerin Zahra Amir Ebrahimi) die Rolle bekam. Anfänglich war Rahini jünger. Sie war naiv, unerfahren, idealistisch und wollte sich selbst beweisen. Mit Zar ist die Rolle erfahrener und älter geworden. Das Leben in einer feindseligen Umgebung hat seine Spuren an ihr hinterlassen. Sie ist zynisch, rau. Man merkt, dass vieles an ihr nagt. Das war mir wichtig, weil ich keine makellose Heldin, sondern einen Menschen aus ihr machen wollte.

Zumal es Rahini als Journalistin und als Frau auch doppelt schwer hat.

Ja, leider. Du musst als Journalist im Mittleren Osten extrem dickhäutig sein. Für Journalistinnen gilt das umso mehr. Zar hat zur Vorbereitung auf die Rollen mit einigen befreundeten Journalistinnen gesprochen. Vieles, was ihr erzählt wurde, hat sich dann auf die eine oder andere Art im Film wiedergefunden. Gerade der frauenverachtende Umgang von Behörden war mir wichtig, weil es auf so traurige Weise zeigt, wie fundamental und wie institutionalisiert das Problem ist, was wir haben.  Trotzdem war mein Anspruch nicht, Frauen bzw. Rahini als Opfer darzustellen. Ich wollte nicht, dass man sie bemitleidet. Aber es ist fast unmöglich, das nicht zu tun.

Holy Spider spielt zwar in der Vergangenheit, ist im Zuge der Protestwellen im Iran aber vermutlich aktueller denn je. In welchem Licht siehst du den Film heute?

Ja, da hat sich wirklich einiges in der Wahrnehmung, gerade der internationalen Wahrnehmung, getan. Der Film war vor Beginn der Proteste komplett fertig. Viele Dinge, die der Film anspricht, waren außerhalb des Irans eigentlich kein Thema. Als wir beispielsweise die Untertitelung in Auftrag gegeben haben, kam es zu der Frage, was denn eine Sittenpolizei sei. Heute redet die ganze Welt darüber. Am Anfang des Films gibt es eine Szene, in der Rahini mit der Sittenpolizei gedroht wird, sollte sie ihr Kopftuch nicht zurechtrücken. Immer wieder werde ich auf diese Szene angesprochen und gefragt, ob ich die Szene wirklich vor Beginn der Proteste geschrieben und gedreht habe. Wenn ich das höre, fühle ich mich jedes Mal daran erinnert, wie wenig sich in dieser Hinsicht geändert hat. Seit 1979 sind aus Telefonen mit Wählscheibe Smartphones entstanden, aber die Sittenpolizei gibt es immer noch. Es ist, als hätte sich die Welt weiterentwickelt, aber der Iran wäre stehen geblieben.

Der Film legt seinen Finger in gleich mehrere Wunden. Die Wunden eines Regimes, für das Zensur oder Schlimmeres nicht unüblich ist. Wie wurde der Film im Iran aufgenommen?

Als bekannt wurde, dass unser Film in Cannes laufen würde, wurde das erstmal weitestgehend ignoriert. Mit Leila’s Brothers gab es einen weiteren iranischen Film im Wettbewerb um die goldene Palme, man hat sich also lieber auf den konzentriert. Unser Film wurde in den Medien immer nur beiläufig erwähnt, bis dann ein Teaser rauskam. Dann hieß es recht schnell, der Film sei blasphemisch, unmoralisch, anti-iranisch. Als Zar dann die Auszeichnung als beste Schauspielerin gewonnen hat, wurde die Kritik ziemlich drastisch. Der iranische Kulturminister und der Sprecher des Parlaments haben sich geäußert. Es kam Kritik aus den Medien und sozialen Medien. Ich und viele weitere Leute, die am Film mitgearbeitet haben, seien moralisch verdreht und sexuell frustriert, so einen Film zu machen. Es ist wirklich absurd und irgendwie ironisch, uns genau das vorzuwerfen, was Saeed ausmacht. Wie kann man uns so etwas vorwerfen, während man selbst solche Dinge zulässt?

Bei der deutschen Premiere auf dem Filmfest Hamburg saßen viele Leute im Saal, die Farsi gesprochen haben. Was bedeutet dir das?

Es freut mich sehr. Ich habe den Film zwar nicht spezifisch für ein iranisches Publikum gemacht, aber ich glaube, dass der Film Iraner*innen auf einer emotionalen Ebene nochmal anders erreichen kann. Zumal es nicht viele Iran-kritische Filme aus dem Iran gibt. Ich hoffe, dass viele Leute Kraft aus unserem Film schöpfen können. Sowohl die, die in Europa in funktionierenden Demokratien leben als auch die, die im Iran für ihre Freiheit auf die Straße gehen.



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