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Die Kritikeranalyse #7: Critic.de [Interview]

Willkommen zur siebten Ausgabe der Kritikeranalyse. Nachdem bisher unter anderem Wolfgang M. Schmitt (Die Filmanalyse), Christopher Petersen (Filmstarts) und Philippe Paturel (CinemaForever) zu Gast waren, beehrt uns heute Frédéric Jaeger, Chefredakteur von Critic.de. Hier finden sich jede Menge Kritiken als auch Filmfestival-Berichterstattungen, Texte zur Filmpolitik und Podcast-Folgen. Critic besteht dabei schon seit 17 Jahren und gehört zu den ältesten Online-Filmmagazinen im deutschsprachigen Raum. Hier wird also schnell klar – critic darf bei dieser Interview-Reihe auf keinen Fall fehlen.

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Für Menschen, die dich nicht kennen: was kann man konkret von deinen Filmkritiken erwarten und in welcher Hinsicht hebst du dich von anderen Filmkritikern ab?

Wir sind ein größeres Team und critic.de zeichnet sich dadurch auch aus. Wir haben da vielfältige Autor*innen, sind alle sehr filminteressiert und verbringen viel Zeit damit, uns mit Kino näher auseinander zu setzen. Das zeigt sich auch bei den Texten. Diese beschäftigen sich mit Filmästhetik wie auch anderen analytischen Fragen und interessieren sich zum Teil auch für gesellschaftspolitische Diskurse und der aktuellen Lage, was denn in der Filmpolitik so los ist. Uns gibt es schon sehr lange, wir haben das Projekt 2004 gestartet, als es noch wenige Online-Filmmagazine gab. Damals wie heute wirst du auf critic.de weniger auf Story reduzierte Ansätze oder ausführliche Handlungsverläufe finden, sondern mehr Ideologiekritik oder Fragen wie „Was erzählt ein Film im Innern und nicht nur an der Oberfläche?“. Oder das genaue Gegenteil: eine Auseinandersetzung mit der reinen Oberfläche, der Form. Darüber hinaus gibt es  regelmäßig Retrospektiven. Wir schauen dabei in die Geschichte, greifen uns beispielsweise einen Regisseur oder eine konkrete Zeit heraus und erstellen dann eine Textsammlung. Festival-Berichterstattung, zum Beispiel von Cannes, Locarno oder der Berlinale, wie auch Kritikerspiegel, wo wir Kritiker*innen von anderen Medien einladen, strukturieren das Jahr.

Welche Menschen möchtest du am ehesten mit deinem Kanal ansprechen?

Weder haben wir Erhebungen über unsere Leserschaft, noch spielt das redaktionell eine große Rolle. Ich denke aber, dass critic.de sich generell eher an ein erwachsenes Publikum richtet. Es gibt da ja auch einige Kanäle, die sich eher an ein jugendliches Publikum richten. Das ist bei uns  weniger der Fall. Wenn ich ab und zu Rückmeldungen von unseren Leser*innen bekomme, dann merke ich aber auch, dass wir da eine gute Mitte einschlagen und durchaus ein breites Publikum ansprechen. Sowohl Menschen, die mit Filmen eher weniger am Hut haben als auch Filmwissenschaftler*innen oder Filmschaffende interessieren sich für unsere Texte und Publikationen.

Was bedeuten Filme persönlich für dich und warum gerade dieses Medium und nicht beispielsweise andere Medien wie Theater, Oper, Musik oder Literatur?

Film ist das Medium, mit dem ich mich am meisten beschäftige, weil es mir in der Breite und Vielfalt am meisten bietet und mich am meisten betrifft. Das Besondere dabei: Es gibt kein Ende, also man kann immer wieder etwas Neues entdecken, egal ob man jetzt in die Geschichte geht und sich das Kino der 70er Jahre anschaut oder den Blick auf die Gegenwart richtet. Das stimmt sicherlich für die meisten Künste, insofern ist es auch eine selbsterfüllende Prophezeiung: Je mehr man sich mit etwas beschäftigt, desto mehr entwickelt sich da einfach ein tiefgreifendes Interesse dafür. Hätte ich mich in frühen Jahren stattdessen mit Musik beschäftigt, dann würde ich wohl jetzt auch etwas anderes machen. Ich muss aber auch sagen, je mehr man die Nuancen eines solchen Mediums versteht, desto größer ist der Lustgewinn. Das sehe ich darüber hinaus aber auch in den Kritiken. Wenn ich über einen Film schreibe, dann gewinnt der Film für mich nochmal etwas durch diesen Akt. Davon abgesehen gehe ich gerne ins Theater und Musik bedeutet mir wie sicherlich den meisten Menschen sehr viel. Der Film ist nur einfach das Medium, mit dem ich mich am meisten beschäftige.

Gab es schon einmal eine Situation, in der du dich mit jemand über einen Film streiten musstest? Wenn ja, was genau ist dein Anspruch? Geht es dir – auch in deinen Kritiken – um den Dialog, um Aufklärung oder um etwas ganz anderes?

Klar, das passiert ständig. Das ist aber meistens gut und es macht Spaß, Argumente zu hören, gerade dann, wenn sie so unterschiedlich ausfallen. Streit über Film ist oft sehr bereichernd, weil man so auf Aspekte kommt, die einem beim Schauen vielleicht gar nicht aufgefallen sind, weil man sich stattdessen auf einen ganz anderen Aspekt versteift hat. Oder es fehlen mir einfach unterschiedliche Kontexte. Insofern finde ich es wichtig, dass die einzelne Kritik immer weiß, dass es auch andere Kritiken gibt. Ich gehe nicht davon aus, dass eine Kritik der ultimative Text sein kann. Es ist im Gegenteil völlig in Ordnung, wenn eine Kritik nur einen kleinen Ausschnitt beleuchtet, weil es noch ganz viele andere gibt. Aufklärung ist für mich aber ein schöner Begriff, wenn man sich da auf die philosophische Tradition beruft. Ich kann mich in der Hinsicht damit generell gut anfreunden, wenn man über philosophische Implikationen nachdenkt und zu der Frage kommt, wie man einen Film interpretieren könnte.

Was würde bei dir passieren, wenn jemand einen Film aufgrund einer gänzlich anderen Herangehensweise gut findet, währendem du diesen Film aus deiner Sicht als schrecklich empfindest? Und denkst du, dass beide Meinungen gleich viel wert sind?

Dadurch, dass das ein abstraktes Beispiel ist, kann ich das nicht so einfach sagen. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass es sowohl gute Pro- als auch Kontra-Argumente für die meisten Filme gibt. Insofern bin ich auf die Argumente anderer gespannt. Es gibt aber auch Meinungen, die sind mehr oder weniger banal verargumentiert. Ein Beispiel: wenn ich höre, dass jemand keine von Frauen inszenierte Filme mag oder argumentiert, dass eine Low-Budget-Produktion das Geld einer Kinokarte nicht wert sei, dann finde ich nicht, dass man dieser Meinung einen Wert beimessen kann. Es ist immer eine Frage dessen, wie sie begründet wird. Das gilt für meine aber auch.

Was genau muss ein herausragender Film bei dir mitbringen?

Wenn ich das wüsste (lacht). Ich glaube, das ist etwas, was niemand weiß. Meine persönliche Liebe für das Kino ist sehr großzügig. Es gibt da also ganz unterschiedliche Dinge, die mich begeistern können. Es gibt zum Beispiel sehr stille und langsame Filme, die eine tolle Kraft entwickeln. Es kann aber auch laut und schnell sein. Intensität oder eine gewisse Form von einem besonders immersiven Filmerlebnis ist aber natürlich immer toll. Nur kann man das nicht jedem Film aufbürden. Es gibt auch Filme, die wollen nicht so eine physische Einwicklung des Publikums erreichen, sondern dass die Zuschauer*innen beispielsweise analytisch und distanziert bleiben. Für manche Filme ist dies das wichtigste, sodass es eben keine starke Involvierung oder Identifikation gibt. Auch das kann absolut richtig und spannend sein. Ich will ja nicht immer dieselbe Art von Film gucken. Der Wunsch nach Abwechslung, vielleicht die größte Kritikerkrankheit, ist einerseits legitim. Andererseits können die Filme dafür aber auch nichts. Man muss daher selber schauen, welchen Film man zu welchem Zeitpunkt schaut. Ansonsten gibt es so innerfilmische Dinge wie Konsequenz, die wichtig sind. Bloß gibt es wiederum inkonsequente Filme, die auch super sind, ganz klar. Vielleicht sind sie konsequent inkonsequent Es zeigt sich schlicht, dass Qualitätsstandards nicht verallgemeinerbar sind und sehr oft kunstvoll unterwandert werden. Mit der Ausnahme vielleicht vom Faktor Intensität, den ich angesprochen habe, der mit etwas Grundlegendem zu tun hat: mit Aufmerksamkeit. Dafür zu sorgen, dass ich ganz aufmerksam und gebannt beim Filmschauen bin, das ist schon eine Qualität.

Welche Rolle spielen Gefühle bei der Filmrezeption bei dir? Und ist ein Film automatisch gut, wenn man bspw. Gänsehaut verspürt oder feuchte Augen bekommt?

Gefühle spielen eine riesige Rolle. Beim Filme gucken werden wir mehr oder weniger sehr stark über die Gefühle angesprochen und das sorgt auch dafür, dass wir Filme so unterschiedlich wahrnehmen. Dies steht bei mir auch nicht im Widerspruch zum Intellekt, das ist kein Gegensatzpaar. Meistens spielt das sogar zusammen, sodass man emotional und intellektuell gefordert wird. Es gibt da aber auch Mechaniken, die man irgendwann durchblickt. Mit gewissen Schnittfolgen, Soundeffekten oder Musik kann man etwa Effekte wie Suspense oder Thrill herstellen. Ich glaube, da ist es wie bei allem – wenn das souverän gemacht wird, dann ist das faszinierend. Wenn das jedoch formelhaft wirkt und man erkennt, mit welchen Mustern da gearbeitet wird oder man nur noch sieht, wie alte Konventionen abgerufen werden, dann hat man diese Gefühlsreaktion nicht mehr. Ich glaube schon, dass es ganz große Qualitätsunterschiede gibt.

Wenn man körperlich auf einen Film reagiert, dann wurde da schon etwas richtig gemacht. Das heißt aber nicht, dass der Film sich darauf ausruhen kann. Auch Gefühle und andere körperliche Reaktionen können stets kontextualisiert und in Frage gestellt werden.

Wie würdest du die Wichtigkeit von Emotionalität, Storytelling, Ideologie (Was sagt ein Film über unsere Welt aus?), Inszenierung, Virtuosität, Ästhetik und weiteren Aspekten bei der Filmrezeption sortieren?

Die bauen alle aufeinander auf. Es ist wie bei einem Kartenhaus, wenn das Fundament nicht stimmt, dann bringt einem auch das Gerüst nicht viel. Ich glaube das Fundament hat etwas mit Intentionalität zu tun, also was sieht der Künstler oder die Künstlerin hinter dem Werk. Ein Beispiel: Es ist nicht so nach dem Motto „ich möchte einen Film für eine bessere Klimapolitik machen“, sondern es ist viel mehr die Frage, wie sich dies im Film ausdrückt. Also es geht hier weniger um „was wollte der Mensch ursprünglich machen?“ sondern mehr um „was kommt davon im Film eigentlich an?“. Diese Wirkung im Film ist dann nämlich eine andere. So eine Haltung könnte jetzt eine belehrende, bewegende oder überwältigende sein, da können ganz unterschiedliche Dinge ankommen. Diese Haltung, die ein Film ausdrückt, ist meiner Ansicht nach deswegen schon das Fundament. Darauf aufbauend kommen dann die Form und die Narrative hinzu. Ein passendes Tempo und einen guten Rhythmus könnte man an der Stelle jetzt anmerken.

Durch die grundsätzlich unglaubliche große Kombinatorik an filmischen Komponenten – man kann einen Film ja auf die unterschiedlichste Art und Weise machen – ist es am Ende die Kunst, die Teile in eine Form zu bringen. Wie sich die unterschiedlichen Aspekte dann im Film zueinander verhalten, dies macht das Besondere aus.

Wenn man auf die Entstehungsgeschichte eines Films schaut, angefangen bei der Idee, bis hin zur Umsetzung und dem fertigen Resultat, welche Faktoren spielen die größte Rolle, wenn man den Anspruch hat, ein filmisches Meisterwerk zu kreieren?

Das kann ich nicht beantworten, das müssen eigentlich die Produzent*innen oder Regisseur*innen beantworten, wobei das vermutlich auch ganz unterschiedlich ist. Ich könnte da jetzt Einiges aus der vorherigen Frage ansprechen, streng genommen kann ich es aber nicht beantworten. Klar ist das Drehbuch wichtig, es gibt aber auch Filme, bei denen das Drehbuch nicht so wichtig ist, weil die anders konzipiert werden. Dazu zählen Filme, die mit Improvisation arbeiten oder die Art Film, bei denen es um eine Welterschaffung geht, die nicht schriftlich zu greifen ist. Da denke ich an Hong Sang-soo genauso wie an Claire Denis. Für 90 Prozent aller Spielfilme ist das Drehbuch jedoch ganz klar das Fundament, die nächsten Stufen darf man in ihrer Bedeutung aber nicht unterschätzen.

Schaut man auf Hollywood, hat es den Anschein, dass in manchen Kreisen die Stimmen immer lauter werden und viele Fans mit den neuen Star Wars-Filmen oder selbst mit einem Fast and Furious 9 sehr unzufrieden sind. Bewegt sich Hollywood in Richtung eines Tiefpunkts oder denkst du es braucht solche Filme auch, sodass Regisseure daraus lernen?

Da kann ich nicht mitreden, da ich schon sehr stark aussuche, was ich mir anschaue. Aus dem ganz aktuellen Hollywoodkino gibt es daher viele Filme, die ich gar nicht gucke. Das ist aber auch meine generelle Empfehlung. Wenn jemand keine Lust auf etwas hat, dann soll er es auch nicht gucken. Ich glaube aber schon, dass es so eine Tendenz gibt, die sich momentan etwas totläuft, besonders bei dem Marken-Fetischismus und den Comicbuch-Adaptionen. Hier werden immer wieder Filme produziert, die richten sich dann an ein eher nicht-erwachsenes oder nicht erwachsen werden wollendes Publikum. Dadurch begrenzt man aber auch die Bedeutung, die diese Filme langfristig haben können. Das ist leider die Realität des heutigen Hollywoodkinos.

Wie vergleichst du die Filmrezeption, muss ein Film gleich bei der Erstsichtung direkt überzeugen oder würdest du doch eher sagen, dass man einen Film erst im Laufe der Zeit zu schätzen lernt?

Meistens weiß ich schon beim ersten Mal, ob ich einen Film schätze oder nicht. Es ist eine besondere Qualität, wenn ein Film über mehrere Sichtungen noch gewinnt, Details entfaltet und einen großen Lustgewinn bringt. Ansonsten ist es bisher nur selten der Fall gewesen, dass mich Filme beim ersten Mal gar nicht interessiert haben und dann später mehr. Aber das kann durchaus passieren, vor allem durch so triviale menschliche Dinge, dass man nicht in jeder Situation gleichermaßen aufnahmefähig ist.

Womit kannst du dich in der Hinsicht eher anfreunden und warum: ein Film, den du nach der Erstsichtung grandios findest, der aber mit jeder weiteren Sichtung abnimmt, oder ein Film, der von Sichtung zu Sichtung immer weiter wächst?

Das Erste ist mir viel vertrauter. Was ich aber grundsätzlich lieber habe: Wenn ich einen Film schaue, der mich beim ersten Mal überfordert, bei dem ich aber ein gewisses Potenzial sehe und mir direkt vornehme, den Film noch einmal zu schauen. Wenn man einfach einen wacheren Zustand oder stilleren Moment braucht, dann ist das einfach eine andere Wahrnehmung, wenn ich mich beim zweiten Mal noch einmal darauf einlassen kann. Am schönsten ist es aber, wenn ein Film bei jeder Sichtung gleich toll ist.

Kritik ist und bleibt immer subjektiv. Man kann jedoch trotzdem den Anspruch haben, ein wenig Objektivität oder Analyse miteinfließen zu lassen. Sollte da eher eine goldene Mitte gefunden werden oder spielt Objektivität keine so große Rolle?

Für mich ist Analyse ein Teil von Kritik. Also das gehört zusammen, eine Kritik kommt nicht ohne Analyse aus. Beim Beispiel „Die Filmanalyse“ von Wolfgang M. Schmitt, heißt zwar Filmanalyse, aber da steckt trotzdem sehr viel Kritik drin. Insofern ist das für mich kein Widerspruch. Eine objektive Analyse ohne Meinung, wie sie in der Filmwissenschaft theoretisch praktiziert wird, bringt mir aber weniger Erkenntnisse. Ich finde es da spannender, wenn das ganz offen mit einer Haltung verbunden ist.

Wie sieht deine Meinung generell über andere Kritiker aus? Was genau zertifiziert jemanden zu einem guten Kritiker und gibt es da Kanäle, die du gern verfolgst?

Es gibt ganz viele Leute, die ich gern und regelmäßig verfolge. Ich greife da aber jetzt ungern welche heraus, weil es einfach zu viele sind. Egal ob Text oder Video, es gibt sehr viele spannende Beiträge.

Je nach Publikumserfolg reden die meisten Menschen immer nur über die „relevantesten“ Filme oder die, die gerade „in“ sind. Wie siehst du das an, ist das ein Problem? Und was fallen dir für grandiose (Neu-)Produktionen ein, bei denen du vermutest, dass diese wahrscheinlich nur die allerwenigsten kennen?

Ja, das ist schon so. Ich wünsche mir manchmal schon, es gäbe mehr Beschäftigung mit Filmen, die es nicht so einfach haben. Da gibt es schon Defizite. Mit Blick auf aktuelle Filme: Promising Young Woman ist sicherlich kein Geheimtipp, damit haben sich schon viele beschäftigt. Den neuen Film von Sabine Herpich Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist kennen aber vermutlich bisher eher wenige Menschen. Sie hat als Regisseurin einen wirklich besonderen Blick und der Film lohnt sich sehr. Ansonsten kam dieses Jahr noch Martin Eden von Pietro Marcello in die Kinos, den sollte man nicht verpassen, weil der unglaublich leidenschaftlich und persönlich ist.

Nachdem ich letztens Be Natural über die mutige Filmpionierin Alice Guy-Blaché geschaut habe, interessiere ich mich für Filme, die ihrer Zeit voraus sind und sich etwas trauen. Auf welchen Film warst du zuletzt froh oder stolz, dass man sich mal etwas Waghalsiges getraut hat?

Maureen Fazendeiro und Miguel Gomes haben in Cannes einen Film gezeigt, der genau deswegen „waghalsig“ ist, weil er an der Oberfläche ganz einfach scheint, von der Produktion bis zum Werk. Die beiden sind für ein paar Wochen zusammen mit drei Schauspieler*innen und einem kleinen Filmteam in ein Ferienhaus gefahren, um dort einen Film zu drehen über ein Team, das einen Film während Corona dreht. Der Film heißt The Tsugua Diaries, „Tsugua“ ist August von hinten nach vorne. Und so spielt der Film diese Reise rückwärts, fängt etwa ein, wie ein verfaulter Apfel langsam wieder hart und reif wird. Die Regisseurin muss sich auf die Couch legen, weil die Schwangerschaft anstrengend ist. Die Schauspieler*innen drehen auch mal allein, als das Regie-Paar zum Doktor fährt. Ein zärtlicher, momenthafter Film.

Für Leute, die schon mehrere tausend Filme gesehen haben und das Beste vom Besten kennen, was sind deiner Meinung nach gute Orientierungspunkte, um auf gute Filme zu stoßen?

Es gibt jederzeit die Möglichkeit sich mit Publikationen auseinander zu setzen. Ich denke, dass wir auf critic.de viele interessante Filme vorstellen. Darüber hinaus sollte man sich regelmäßig mit dem Programm von Kinos auseinandersetzen, das Gleiche gilt aber auch für Streaming-Dienste. In dem Programm von MUBI beispielsweise findet man eine ganz große Bandbreite an sowohl historischen als auch neuen Titeln, die immer mal überraschen.

Was ist das Schlimmste im Kino für dich – Trashfilme, die nächste deutsche Durchschnittskomödie oder doch etwas ganz anderes? Und sind alle gleichermaßen schlimm oder wie differenzierst du in der Hinsicht?

Das kommt auf den Moment an. Es gibt manchmal auch die Möglichkeit, dass man schlechte Filme genießen kann, wenn man sie mit anderen Leuten guckt und darüber lachen kann. Ich würde sagen, am schlimmsten oder anstrengendsten sind Filme, die reaktionäre Weltbilder propagieren und Filme, die Erzählökonomie nicht beherrschen. Ein Beispiel in der Hinsicht: Wenn ein Film kein Gefühl dafür hat, was man erzählen und auslassen sollte und mit welcher Geschwindigkeit man die Geschichte vorantreibt. Als Kritiker hat man es aber immer leichter. Selbst wenn man einen Film gar nicht mag, inspiriert er trotzdem Texte und manchmal sind die gar nicht so schlecht. Filme, die gar nichts mit dem Zuschauer machen, oder den Eindruck erwecken, dass sich kein Mensch um den Film bemüht hat, sind dann aber schon die anstrengendsten. Um ein Beispiel zu nennen: Maßlos geärgert habe ich mich über Werk ohne Autor, der kein Verhältnis zu seinen Mitteln findet.

Wie siehst du dich und critic in zehn Jahren?

Bei critic.de haben wir keine langfristige Planung. Da geschieht eher etwas aus dem Moment heraus.

Bei so vielen Durchschnittsfilmen, die jedes Jahr neu herauskommen, reicht das aus, um „am Ball zu bleiben“? Anders gefragt: wie wird sich die Beziehung zum Kino für deine Person ändern?

Für mich steht nach wie vor die Vielfalt im Mittelpunkt und insofern sehne ich mich immer nach dem, was ich gerade nicht sehe. Ansonsten wird mein Alltag durch eine sehr breite Rezeption von Filmen aus unterschiedlichsten Kontexten geprägt und das möchte ich mir unbedingt bewahren.

Vielen Dank für deine Zeit und das tolle Gespräch!



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