Atlas 2021
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Atlas (2021)

Inhalt / Kritik

Atlas 2021
„Atlas“ // Deutschland-Start: 27. Oktober 2022 (Kino)

Allegra (Matilda De Angelis) genießt ihr Leben im Herzen Europas. Im schönen Tessin lebt es sich gut als sportliche, selbstbewusste und freie junge Frau. Mit ihrem Freund Benni (Nicola Perot), ihrer besten Freundin Sonia (Anna Manuelli) und deren Partner Sandro (Kevin Blaser) meistert sie extreme Klettertouren. Doch die Alpen sind Allegra nicht genug, sie will mehr von der Welt. Und so schlägt sie den Freunden vor, den hohen Atlas zu Marokko zu bezwingen. Von dessen Gipfel, so heißt es, kann man das Meer sehen. Aber so weit kommt das Kletterquartett nicht. Als sie in einem Touristencafé in Marrakesch Halt machen, explodiert eine Bombe.

Spannendes Puzzle

Man muss die Geschichte so nacherzählen, um deutlich zu machen, worum es in Atlas geht. Aber der kunstvollen Montage im zweiten langen Spielfilm von Niccolò Castelli kann eine solche Zusammenfassung nicht gerecht werden. Nur puzzlehaft, in einem Nebeneinander selbstständiger Teile, setzt sich zusammen, was Allegra widerfahren ist. Wir sehen sie als abenteuerlustige Optimistin am Berg, als Verletzte mit Halskrause, als schweigsame Tochter am Tisch der Eltern und schließlich als stumme Passantin, die einem arabisch aussehenden Mann nachspioniert. Was die unterschiedlichen Sequenzen miteinander zu tun haben, auf welcher Zeitebene wir uns befinden, worum es eigentlich geht – all das bleibt zu entschlüsseln, bis sehr spät in der Inszenierung das traumatische Ereignis ins Bild gerückt wird. Und selbst dann verläuft sich der Zuschauer noch auf falschen Fährten, wenn er sich zwischen Rückblenden und Jetztzeit zu orientieren versucht.

Das ist kein Schwachpunkt, sondern die eigentliche Stärke des Films. Niccolò Castelli, der zusammen mit Stefano Pasetto auch das Drehbuch geschrieben hat, versetzt den Zuschauer in die Haut von Allegra, die mit posttraumatischen Schüben zu kämpfen hat und für die ihr Leben keinen Sinn mehr ergibt. Das Ineinander von Erinnerungsfetzen, aktuellen Erlebnissen, Panikattacken und dadurch ausgelösten Flashbacks spiegelt das Zersplittern eines sicher geglaubten Weltbildes: ein Zerbersten jeglichen Vertrauens in unhinterfragte Selbstverständlichkeiten.

Es ist schwer vorstellbar, dass sich jemand derart einfühlsam in einen solchen Zustand hineindenken kann, der ihn selbst nur von ferne kennt. So ist es auch nicht. Der Anschlag von Marrakesch geschah wirklich, drei der 17 Opfer kamen aus dem Tessin und der Regisseur hatte die Gelegenheit, eine Überlebende zu treffen und mit ihr über die Schwierigkeiten zu sprechen, ins Leben zurückzukehren. Das war 2011, zwei Jahre später begann Niccolò Castelli, den Film zu entwickeln. Damals standen die Anschläge in Paris, Brüssel, London und Berlin noch bevor, aber das Gefühl, das sich in der Folge in ganz Europa breit machte, bedrückte den Tessiner Regisseur schon vorher: „Unsere Generation war sich damals ziemlich sicher, auf einer neutralen, freien und glücklichen Insel, geschützt vom Rest der Welt, zu wohnen“, schreibt er im Presseheft. „Doch in diesem Moment wurden wir Teil der Welt und uns wurde bewusst, dass nichts mehr so sein wird wie es vorher war.“

Heilung im Zickzackkurs

Mit dem islamistischen Terror konfrontiert zu sein, ist das eine. Ihm selbst zum Opfer zu fallen, etwas völlig anderes. Atlas tut gut daran, beides nicht zu vermischen und die politische Dimension lediglich sanft im Hintergrund mitschwingen zu lassen. Ein Trauma ist individuell, es lässt sich nur auf sehr persönliche Weise bewältigen. Allegra mag auf den höchsten Gipfeln gestanden haben, nun fängt sie den Weg ganz von unten an, mit vielen Rückschlägen, zaghaften Fortschritten – ein Zickzackkurs ohne hollywoodhafte Siegermentalität.

Dass man der jungen Frau glaubt, hat viel mit dem nuancenreichen Spiel Matilda De Angelis und der visuellen Empathie von Kameramann Pietro Zuercher zu tun. Er nimmt keinen objektiven Standpunkt an, beobachtet die körperlich und seelisch Versehrte nicht wie ein interessantes Forschungsobjekt. Sondern stellt sich quasi in ihre Schuhe, lässt in Nahaufnahmen die Welt zerfallen, macht Enge spürbar und lässt Hintergründe verschwimmen, um das subjektiv Wichtige umso klarer hervorzuheben. Und: Je höher die Berge werden, auf die sich Allegra irgendwann wieder wagt, desto freier wird auch der filmische Blick.

Credits

OT: „Atlas“
Land: Schweiz, Belgien, Italien
Jahr: 2021
Regie: Niccolò Castelli
Drehbuch: Niccolò Castelli, Stefano Pasetto
Musik: Karim Baggili
Kamera: Pietro Zuercher
Besetzung: Matilda De Angelis, Helmi Dridi, Irene Casagrande, Nicola Perot, Anna Manuelli, Kevin Blaser, Angelo Bison

Trailer

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fazit
Inspiriert von wahren Ereignissen, spürt „Atlas“ dem schwierigen Prozess einer posttraumatischen Heilung nach. Was in einer chronologischen Erzählung unglaubwürdig wäre, gewinnt dramatische Kraft dank komplexer Montage und konsequent subjektiver Perspektive.
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