Ein bisschen bleiben wir noch
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Ein bisschen bleiben wir noch

Inhalt / Kritik

Ein bisschen bleiben wir noch
„Ein bisschen bleiben wir noch“ // Deutschland-Start: 2. September 2021 (Kino) // 28. Januar 2022 (DVD)

Mit seinem Namensvetter Oskar aus Günter Grass’ Jahrhundertroman Die Blechtrommel hat der kleine Oskar (Leopold Pallua) manches gemein: seine Kraft, der Welt zu trotzen, seine surreal anmutenden Einfälle und sein eigensinniger Blick auf die Welt. Die Macht der Phantasie ist für Oskar überlebenswichtig, seit er mit Schwester Lilli (Rosa Zant) und der Mutter (Ines Miro) aus Tschetschenien nach Wien fliehen musste. Obwohl die Kinder inzwischen perfekt Deutsch sprechen und in der alten Heimat niemals mehr zurechtkämen, steht plötzlich die Abschiebepolizei vor der Tür. Die verzweifelte Mutter, seelisch sowieso angeknackst, flüchtet ins Bad und schneidet sich die Pulsadern auf. Sie überlebt, landet aber in der Psychiatrie. Das Jugendamt teilt Oskar und Lilli auf verschiedene Pflegefamilien auf. Es sei wichtig, sie zu trennen, heißt es. Aber Oskar und Lilli sind wie Pech und Schwefel. Sie finden Wege, sich wenigstens ab und zu heimlich zu treffen.

Kraft eines Geheimschwurs

Mit dem Essen spielt man nicht, heißt es. Aber es gibt Ausnahmen. Der achtjährige Oskar „malt“ mit Erbsen ein Gesicht auf den Teller. Eine Karotte dient als Nase, auch auf dem Gedeck seiner 13-jährigen Schwester Lilli, die mit ihm am Küchentisch sitzt. Das Erbsen-Karotten-Gebilde ist nicht irgendein Antlitz. Das lachende Gesicht ist ein Symbol von magischer Kraft. Überall findet es sich im Wiener Alltag, an einem Fenster, im Bad oder als Perlenkette an der Wand: ein lächelndes Gesicht. Es dient als Geheimschwur der Familie, ruft Erinnerungen wach und gibt Kraft zum Durchhalten.

Ein bisschen bleiben wir noch ist keine Anklage. Alle meinen es gut, selbst die Polizisten. Trotzdem läuft etwas schief in Österreich und wohl in allen westlichen Staaten. Was das genau ist, darauf reitet der Film nicht herum, jeder kann es sich denken. Stattdessen begleitet der Zuschauer Lilli und Oskar in ihre jeweiligen Pflegefamilien, was für lustige, dramatische, traurige und spannende Komplikationen sorgt. Oskar wird von einem ultrakorrekten, streng ökologisch und vegetarisch lebenden Ehepaar aufgenommen. Zum Haushalt gehören außerdem die unkonventionelle, schwer unter Parkinson leidende Oma (Christine Ostermayer) und ein munteres Kleinkind. Lilli kommt bei der allein lebenden, aber mit einem neuen Liebhaber anbandelnden Ruth (Simone Fuith) unter.

Eigene Erfahrungen es Regisseurs

Der aus dem Iran stammende Regisseur Arash T. Riahi (Kinders, Everyday Rebellion) hat in die unpolitische Vorlage des Kinderbuchs Oskar und Lilli von Monika Helfer eigene Erfahrungen eingeflochten. Daraus ist ein Flüchtlingsdrama besonderer Qualität entstanden: liebevoll und lebensprall, die harte Realität nicht unter den Teppich kehrend, aber sie auch nicht in Betroffenheitsklischees ausweidend.

Schon am Anfang stehen die Bilder manchmal Kopf. Wie geträumt spiegeln sich die Kinder etwa verkehrt herum in einer glatten Wasseroberfläche. Erst nach und nach lässt sich ausmachen, dass sie ihre kleinen Mäuler aufsperren. Oskar flüstert: „Wenn man den Mund lang genug offen lässt, können die Sorgen vielleicht aus einem herausfliegen“. Was ist das: eine Erinnerung? Ein Alptraum? Eine Wunschvorstellung? Ganz klar wird das nicht. Riahi und sein Kameramann Enzo Brandner suchen die Poesie am Bahndamm, unterlaufen die Härte der Realität auch optisch mit der sprudelnden Fantasie des Achtjährigen, der sich seine eigene Realität schafft.

Visueller Zauber

Ohne komplett ins Surreale abzuschweifen, gönnen sie den beiden Kindern subjektive Blickwinkel, die dem Film visuellen Zauber verleihen. Dabei decken sich die Wahrnehmungen durchaus nicht. Lillis Weltsicht ist härter, geprägt von klaren Strukturen und hellem, manchmal schneidenden Licht. Oskars Kosmos ist wundersamer und verspielter. Trotzdem ist er es, der letztlich die klügsten pragmatischen Entscheidungen trifft, um die Familie wieder zusammenzubringen. Wobei man dazusagen muss, dass das Ende bewusst offen daherkommt. Es ist theoretisch möglich, könnte aber auch märchenhafte Fantasie sein.

Credits

OT: „Ein bisschen bleiben wir noch“
Land: Österreich
Jahr: 2020
Regie: Arash T. Riahi
Drehbuch: Arash T. Riahi
Vorlage: Monika Helfer
Musik: Karwan Marouf
Kamera: Enzo Brandner
Besetzung: Leopold Pallua, Rosa Zant, Anna Fenderl, Christine Ostermayer, Simone Fuith, Ines Miro

Bilder

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„Ein bisschen bleiben wir noch“ ist kein klassisches Sozialdrama, obwohl er sich mit dem Streit um Abschiebung auseinandersetzt. Sondern ein Film, der Widersprüchliches auf wundersame Weise vereint.
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