Camgirl - Wahnsinnige Begierde PVT Chat
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Camgirl – Wahnsinnige Begierde

Inhalt / Kritik

Camgirl Wahnsinnige Begierde
„Camgirl – Wahnsinnige Begierde“ // Deutschland-Start: 26. März 2021 (DVD)

Der alleinstehende Programmierer Jack (Peter Vack) und das Camgirl Scarlet (Julia Fox) lernen sich über den Private Cam-Bereich einer Pornoseite kennen. Die anfänglich klar definierte Geschäftsbeziehung zwischen den beiden wird mit der Zeit zunehmend intimer und damit auch komplexer. Die Verwirrung ist schließlich perfekt, als Jack glaubt, die angeblich in San Francisco lebende Scarlet auf den Straßen New Yorks erkannt zu haben. Wer jetzt meint, das schon tausendfach gesehen zu haben, wird eines Besseren belehrt, denn originelle Nebenplots und immer wieder eingestreuter, doppelbödiger Millenial-Humor machen Camgirl – Wahnsinnige Begierde zu einer frischen und sehr zeitgemäßen Mischung aus Erotik-Thriller und Romantic Comedy.

Paradoxes Machtgefälle

Der Originaltitel PVT CHAT bezieht sich auf die sog. „Private Cams“, separate Bereiche von Dating-Portalen bzw. Porno-Websites, in denen zwei oder mehr Personen „privat“ miteinander, nun ja, interagieren können. In einem solchen – zumindest nach Außen – geschützten Raum treffen der junge, von Peter Vack (Mozart in the Jungle) gespielte Eigenbrötler Jack (im Englischunterricht hätte man hier von einem „telling name“ gesprochen) und das Cam-Girl Scarlet (Julia Fox, bekannt u.a. aus Der schwarze Diamant von den Safdie-Brüdern) aufeinander. Wie auch im Film selbst auf Dialogebene ausdiskutiert wird, ist der Begriff bzw. der Beruf des „Camgirl“ dabei nicht einfach als eine Form der Prostitution zu begreifen. Um diese Abgrenzung auch narrativ zu unterstreichen, bedient sich der Film eines inszenatorischen Kniffs – aber dazu später mehr.

Zunächst müssen die Eckdaten der Beziehung von Scarlet und Jack definiert werden. Darin besteht ein doppeltes und auch paradoxes Machtgefälle. Jack ist der zahlende Kunde, sitzt aber damit nur vermeintlich am längeren Hebel. So kann er zwar virtuelles „Trinkgeld“ geben („tip tokens“), aber letztlich ist es Scarlet, die entscheidet, wie weit sie geht. Außerdem ist das Machtverhältnis innerhalb ihrer Cam-Beziehung genau umgekehrt: Scarlet nimmt durch verbal abuse und dirty talk die dominante Position ein, gibt Befehle und beendet auch einfach den Video-Chat, wenn sie genug hat. Wichtig ist dabei, dass der Film diese Beziehung bzw. die individuellen Bedürfnisse und Beweggründe der beiden niemals tabuisiert oder dämonisiert. Es ist einfach eine Spielart von Sexualität, genauso normal und legitim wie jede andere auch.

Verfügbarkeit und Unerreichbarkeit

Interessant, zumal für die audiovisuelle Umsetzung, ist dabei natürlich das technische Dispositiv. So läuft zwischenmenschliche Kommunikation und Interaktion in den ersten 15 Minuten des Films ausschließlich mediatisiert, sprich über den Umweg von Mikrofon und Bildschirm, ab. Aus dieser obligatorischen Mittelbarkeit der vermeintlich intimen Treffen ergibt sich ein grundsätzlicher Widerspruch: „Wanna go private?” fragt Scarlet Jack, doch an der „Private Cam“ ist selbstverständlich rein gar nichts Privates. Sie simuliert die absolute Verfügbarkeit, steht aber zeitgleich für die totale Unerreichbarkeit. Zwei Sätze später macht Scarlet dies auch unmissverständlich klar, wenn sie Jack erinnert: „You can only watch from afar.“ Jack ist diese Form der (Geschäfts-)Beziehung schon bald nicht mehr genug und er bezahlt Scarlet „to drop the act“, also um Teile ihres Privatlebens zu teilen. Zwar lässt sie sich nach und nach darauf ein, doch wird man das Gefühl nicht los, dass die privaten Details nur eine Verlängerung eben dieses (bezahlten) „acts“ sind.

Eine neue, analoge Dimension ihrer Beziehung eröffnet sich schließlich, als Jack meint, Scarlet (oder eine Doppelgängerin?) in New York auf der Straße erkannt zu haben. Begleitet von seinem eigenen voice-over streift Jack durch die Stadt, die Handkamera folgt ihm in langen, schönen tracking shots. Als er Scarlet mit seiner Entdeckung konfrontiert, streitet diese zunächst ab, jemals in New York gewesen zu sein. Diese Konstellation könnte der Aufhänger für einen Krimi- oder Thriller-Plot sein und es ist Camgirl – Wahnsinnige Begierde hoch anzurechnen, dass der Film keinem dieser naheliegenden Erzählschemata folgt, auch wenn die Hitchcock– und Taxi Driver-Parallelen sich unweigerlich aufdrängen. Doch das Interesse von Regisseur Ben Hozie gilt nicht diesen ausgetreten Pfaden; vielmehr streift er mittels mehrerer Nebenschauplätze (etwa eine Vernissage oder die Proben eines Theaterstücks) zahlreiche gesellschaftliche Themen, ohne alle Ansätze sklavisch auszuformulieren.

Sympathisch abgeklärt

Ein weiterer Film, an dem man sich zunächst erinnert fühlen könnte, ist Cam (2018). Auch darin geht es um ein Cam-Girl, auch hier werden Entfremdung, Kommodifizierung und der Wettbewerb (unter den Camgirls besteht durch ein Ranking-System jederzeit ein rigides Konkurrenzsystem) thematisiert und auch hier spielt das Doppelgänger-Motiv eine Rolle. Doch was in Cam schnell in recht billigen Slasher-Horror kippt, bekommt in Camgirl – Wahnsinnige Begierde eine emanzipatorische Stoßrichtung. Nach etwa der Hälfte des Films – und das lässt sich ohne zu spoilern sagen – wechselt der Film seine (Erzähl-)Perspektive. Die Kamera springt in den Gegenschuss und plötzlich schauen wir über Scarlets Schulter und sehen Jack auf dem Bildschirm. Scarlet bleibt also kein Objekt und keine Projektionsfläche; auch ist sie kein Opfer, das ausgebeutet wird. Sie ist ein Subjekt mit Handlungsmacht und weiß sehr genau, was sie tut.

Die unausweichliche Kommodifizierung sämtlicher Lebensbereiche im Spätkapitalismus ist vielleicht das Grundthema des Films. Das ist zwar beileibe keine neue Erkenntnis, wird in Camgirl – Wahnsinnige Begierde aber auf durchaus erfrischende Weise behandelt. So ist Jacks große Leidenschaft neben den Private Cams das Zocken in Online-Casinos. Diese Parallele, inklusive des in beiden enthaltenen Suchtfaktors, wird relativ unsubtil gezogen. Doch auch hier zeigt sich der Film keineswegs wertend oder kulturpessimistisch. Ganz im Gegenteil: Jacks nihilistische These, dass alle menschlichen Beziehung grundsätzlich ausbeuterisch und die Leute nur auf ihren persönlichen Vorteil bedacht seien („What can I get out of this?“), widerlegt er durch seine Taten selbst.

Als Teil eines weiteren unterhaltsamen Nebenplots setzt Jack seine Fähigkeiten im Online-Glücksspiel ganz selbstlos ein, um dem Sohn eines Freundes das College zu finanzieren. Sowohl der Film als auch sein Protagonist sind auf eine nicht unsympathische Weise abgeklärt. Beide sind sich der Entfremdung der Menschen voneinander und des tiefgreifenden Verlusts von zwischenmenschlicher Verbindung wohl bewusst. Niemand, so ihre Überzeugung, hat ein aufrichtiges, tiefgehendes Interesse an anderen Menschen. Das klingt jetzt alles furchtbar deprimierend, aber das ist es nicht. Der nihilistische Tenor wird immer wieder durch leichte ironische Brechungen und Situationskomik aufgelockert und das Ende wirft einen optimistischen und dennoch angenehm unkitschigen Blick in die Zukunft.

Credits

OT: „PVT CHAT“
Land: USA
Jahr: 2020
Regie: Ben Hozie
Drehbuch: Ben Hozie
Musik: Austin Brown
Kamera: Ben Hozie
Besetzung: Peter Vack, Julia Fox, Nikki Belfiglio, Buddy Duress, Keith Poulson

Bilder

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Die selbsternannte „romance about freedom, fantasy, death, friendship“ zeichnet ein auf den ersten Blick ungewöhnliches, letztlich aber doch sehr treffendes und zeitgenössisches Beziehungsportrait. Entlang des Hauptplots wird nebenbei eine Vielzahl gesellschaftlicher Themen gestreift und lustvoll mit Genre-Erwartungen gespielt. Schade ist lediglich, dass das Thema ästhetisch deutlich größeres Potenzial gehabt und etwas mehr visueller Wagemut bei der Umsetzung sicher nicht geschadet hätte.
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von 10